Sex auf der Haut

Enttabuisierung intimer Berührungen im Rahmen der jetzt startenden Reihe „Reiß mich auf“: Felix Ruckerts „Secret Service“ auf Kampnagel will die mitspielenden, nicht sehenden Zuschauer in Schmerz und Lust hineintanzen

Sein größter Erfolg war der Brief einer 64-jährigen Dame: „Lieber Felix Ruckert, nach dem gemeinsamen Besuch Ihrer Vorstellung, die uns sehr bewegte, hatten mein Gatte und ich zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder Sex miteinander. Und – ich erlebte den ersten Orgasmus meines Lebens.“

Ein Abend im Theater, der das Leben veränderte. Derjenige, der den Beweis dafür erbrachte, heißt Felix Ruckert, geboren 1959, Berliner Choreograph und Tänzer, dessen neueste Produktion Secret Service im „Reiß mich auf“-Programm auf Kampnagel die Grenze zwischen TänzerInnen und ZuschauerInnen aufbrechen wird. „Leiblabor“ nennt er die Zuschauerkörper, die aktiver Bestandteil, wenn nicht Hauptakteur des Stückes sind: „Keine Kunst. Kein Geschwätz. Dieses Stück wird Sie berühren. Zärtlich. Lustvoll. Direkt.“

Was aus Berlin, wo Secret Service im Februar Premiere hatte, zu hören ist, verspricht einen einzigartigen Theaterabend. Dem Besucher werden die Augen verbunden, und mit dem Augenlicht gibt er auch die Verantwortung für das Geschehen und die ersten Kleiderstücke ab: Socken und Schuhe. Hautnah und mit unerwarteten Berührungen und Bewegungen spielt das Stück zwei Stunden lang mit dem größten menschlichen Organ: der Haut. Streicheln, Pieksen und Schweben ist da genauso zu erwarten, wie an den nackten Leib und Schweiß eines Fremden gepresst zu werden. Die „Zuschauer“ werden von Ruckerts Ensemble in Lust und Schmerz „getanzt“ – sensorisch verstärkt durch den erzwungenen Einsatz der vernachlässigten Sinne Geruch, Gehör und Kinästhesie.

In einem zweiten Teil werden dem „Zuschauer“ zusätzlich die Hände gefesselt. Berührungen, allemal unter Unbekannten, sind hierzulande kodiert und reglementiert. In Fahrstühlen und Bussen wird intuitiv Mindestabstand gehalten. An den Arm fassen, Küsschen links, Küsschen rechts gelten gemeinhin schon als südländisch-temperamentvoll. Intimere Berührungen sind bereits sexuell konnotiert.

Felix Ruckerts Geheimdienst dringt daher tief unter die natürliche Schutzhülle des Menschen. Eine gravierende Irritation, ein Angriff auf die Persönlichkeit und die letzte Instanz des Ichs: den Körper. Aber auch ein geheimer Dienst am Menschen, der sich vom restriktiven Verhaltenskodex unter Körpern gefahrlos frei machen und die Choreographie mit einem geradezu infantilen Erlebnishunger aufnehmen kann.

Vor- und Nachspiel des Stücks findet dann loungeartig, bei Kaffee und Schokolade statt. „Secret Service verweigert die Simulation jeglicher Bedeutung“, heißt es. Es bleiben also auch Fragen offen, wie es sich für einen guten Geheimdienst gehört.

CHRISTIAN T. SCHÖN

Donnerstag, 21. bis Sonnabend, 23. November, jeweils 20-22 Uhr (permanenter Einlass), Kampnagel, Jarrestr. 20