Liebling Jurek

Sander L. Gilman liest aus seiner Jurek Becker-Biographie, dazu zeigt das Metropolis „Jakob der Lügner“

Wenige Biographen verstehen es, die genregemäße Beschränkung auf das Leben einer Person nicht bloß durch Anekdoten wettzumachen, sondern durch die Beleuchtung zeitgeschichtlicher Hintergründe. Der US-Amerikaner Sander L. Gilman gehört zu diesen Wenigen. Und trotzdem lässt seine gerade erschienene Biographie über Jurek Becker einiges offen.

Jurek Becker (1937-1997), Holocaustüberlebender, DDR-Bürger und Autor zahlreicher Drehbücher und Romane, hing lebenslang der Überzeugung an, ein besserer Sozialismus sei möglich. Aber er war damit selbstredend nicht allein. Mit seinem Freund Manfred Krug beispielsweise zog Becker schon Anfang der 60er in eine gemeinsame Wohnung; noch 40 Jahre später sollte Krug, nach langer gemeinsamer Arbeit für Liebling Kreuzberg, in dem Film Neuner, zu dem Becker das Drehbuch geschrieben hatte, die Hauptrolle spielen.

Und Frank Beyer war nicht nur der Regisseur von Spur der Steine (1966) mit Manfred Krug in der Hauptrolle. Der durch den Film in Ungnade gefallene Beyer durfte erst wieder für die DEFA arbeiten, nachdem Becker darauf bestanden hatte, ihn als Regisseur für die Verfilmung seines Romans Jakob der Lügner (1974) zu bekommen. All dies lässt sich Gilmans Biographie entnehmen. Doch das Milieu, das Netzwerk der Opposition in der DDR, das es Einzelnen überhaupt möglich machte, jahrzehntelang nicht von ihren Überzeugungen abzurücken, bleibt in seinem Buch etwas unterbelichtet.

Auch mit der Weigerung, die Betriebsarbeit zum alleinigen Gegenstand seiner Literatur zu machen, war Becker nicht so allein, wie Gilman suggeriert. Zur selben Zeit wie Becker mit Jakob der Lügner widmeten auch andere DDR-Autoren, etwa Christa Wolf (Nachdenken über Christa T.) oder Fritz Rudolf Fries (Der Weg nach Oobliadooh), ihre Romane dem Thema Faschismus – in offener Frontstellung zum „Bitterfelder Weg“, der offiziellen Schreibdoktrin.

Heute Abend wird Sander L. Gilman im Metropolis lesen, und vielleicht sollte man nicht so nörglerisch umgehen mit seinem Buch. Denn schließlich hat sich außer der Stasi bisher in Deutschland niemand dafür interessiert, das Leben des auch nach dem Mauerfall noch unbequemen Becker aufzuzeichnen. Bei dem Film Jakob der Lügner, nicht zu verwechseln mit dem US-amerikanischen Remake von 1999, lässt sich anschließend so manches Vorurteil über „die“ Faschismusdeutung der DDR revidieren. Christiane Müller-Lobeck

Lesung und Film: heute, 20 Uhr, MetropolisSander L. Gilman: Jurek Becker. Die Biographie, Ullstein Verlag, München 2002, 336 S., 22 Euro