In Sippenhaft

Störung des Familienfriedens: Das Theater o. N. hat Birgit Vanderbekes „Das Muschelessen“ für die Bühne adaptiert

Ein Abend, wie man ihn aus Sozialstudien über die Biedermeierzeit kennt: Heimgekehrt von der Dienstreise, wird der Vater feierlich an den gedeckten Esstisch treten. Die frisch gebadeten Kinder reichen ihm seine Lieblingsspeise, Muscheln. Dann wird der Patriarch die schulischen Leistungen seiner Sprösslinge prüfen und zum Wohnzimmerschrank treten, um einen Cognac zu entnehmen. Später wird er dann seinen Gürtel lösen, und seine Trunkenheit in stumme Bestrafung münden lassen.

Doch das Abendritual gerät aus den Fugen, sobald sich nur eines jener Details, die sonst den Ablauf vorgeben, verschiebt. Birgit Vanderbekes schmaler Roman „Das Muschelessen“ handelt von einer solchen Verschiebung – aus der Perspektive der Tochter, die zusammen mit Bruder und Mutter den Vater erwartet. Während die Stunden langsam verrinnen, werden mutige Allianzen geschmiedet und kleinmütig sofort wieder verworfen. Die Sprache, die dabei wie ein neu erworbenes Instrument zaghaft und vorsichtig ausprobiert wird, entpuppt sich als Sprengsatz für den familiären Scheinfrieden. Zersetzend ist sie, weil sie auf Möglichkeiten der Veränderung verweist.

Für die dramatische Adaption des Textes, die Maya Franke und Ania Michaelis im Theater o. N. am Kollwitzplatz vornehmen, werden neben der Tochter (verstockt und träumerisch: Susanne Schnapp) auch Mutter und Sohn zu Erzählern. Gerd Beyer verkörpert den Sohn, in dem sich ein aggressiver Sarkasmus regt, eine agile Widerständigkeit, die nur auf die richtige Gelegenheit lauert. Die Mutter (Karin Oehme) umklammert den Emailletopf, der früher zum Windelnwechseln diente und heute zum Säubern der Muscheln, wie einen rettenden Schwimmring. Noch steht sie im Bann der spießbürgerlichen Ideale ihres Mannes, der die süßliche Spätlese für göttlich und Verdis Gefangenenchor für die einzig hörbare Musik hält. Bemüht setzt sie ihr „Feierabendgesicht“ auf, angstvoll das „Umschalten“ erwartend. Doch längst tanzen die Mäuse auf dem Tisch.

Die Inszenierung vertraut der spannungsgeladenen Situation des bangen Wartens und überführt die emotionalen Ausschläge in streng formalistische Posen, die mitunter starke Bezüge zum choreografischen Theater aufweisen. Mal tanzt die Tochter ihr eskapistisches Vergnügen auf einem Stuhl, mal verschmilzt sie mit dem Bruder zu einer Salzsäule, den Oberkörper starr nach vorne gebeugt, wie um einen Rammbock gegen den mütterlichen Verteidigungskordon aufzubauen. Die Gesten synchronisieren sich, ein Einverständnis scheint auf, bevor es gleich wieder in sich zusammenfällt. Sie stürzen zu den Wänden, um sich gegen sie zu stemmen, eine neuerliche Verengung der Freiheit befürchtend. Diese spielerische Umsetzung von Gefühlsschwankungen habe ihr „viel Spaß“ bereitet, sagt Regisseurin Maya Franke. Dies ist jederzeit und bei allen Beteiligten spürbar. Und so ist man fast geneigt, das leise Grauen beiseite zu scheiben und den klaustrophobischen Familienabend als gelungen zu bewerten. JAN ENGELMANN

Nächste Vorstellungen: 23./24. November, 20 Uhr. Karten: 4 40 92 14