Ein Mann hat Recht

Auf der Suche nach der unsichtbaren Republik: In „Bowling for Columbine“ macht sich Michael Moore zum Repräsentanten all jener, die nicht mehr verstehen, wie ihnen geschieht. Den Irrsinn der angst- und waffenbesessenen Nation will er dokumentieren, auf dass sie wieder gesund werde

Ratlos, rastlos häuft Moore Bilderberge an. Auf der Spitze: eine steile These

von TOM HOLERT

Wieder unterwegs: der Ein-Mann-Agitprop-Zirkus Michael Moore, der plump-verschmitzte Perseus mit Basecap und ausgebeulten Jeans, dafür bekannt und berüchtigt, dem Kapital und der Gorgo „Amerika“ den Spiegel vorzuhalten.

Doch sind die Eindeutigkeiten, die diese satirische Aufklärungsmaschine verspricht, trügerisch. Für „Antiamerikanismus“ sorgen andere, auch solche, die sich Futter für ihr Ressentiment in Michael Moores Filmen und Büchern besorgen. So mag „Bowling for Columbine“, sein neues Docutainment-Produkt, vordergründig eine gnadenlose Abrechnung mit Waffenlobbyisten, Kriegstreibern und der gewaltverdammten Seele der US-Amerikaner sein. Tief verborgen im grob gestrickten Bildtext allerdings steckt eine recht glanzvolle Vision dieser Nation der Sterne und Streifen. Indem er die Verhältnisse als skandalös und irrwitzig schildert, rekonstruiert Moore die Kehrseite der gesammelten Enttäuschungen und Verletzungen einer linkspatriotischen Identität.

Von Anfang bis Ende regiert hier das Kopfschütteln. In der ersten Einstellung von „Bowling for Columbine“ ist Moore zu sehen, wie er in seiner typischen, schlurfenden, leicht vornübergebeugten, Neugierde ausstrahlenden Art eine Bank aufsucht, die ihren Neukunden neben einer Kontonummer auch ein Gewehr überreicht. Genüsslich kostet Moore den Moment aus, in dem er sich von einer Sachbearbeiterin ein bizarres Formular erklären lässt, das er unterschreiben soll, um seine geistige Gesundheit und nichtkriminelle Vergangenheit zu bestätigen – bevor er mit seinem nagelneuen Kundengewehr davonspaziert. Eindrücklicher kann man den niedrigschwelligen Zugang zu Schusswaffenbesitz in den USA nicht demonstrieren.

Besonders schwer erwischt es die National Rifle Association (NRA). Moore, als jugendlicher Sportschütze selbst der Waffenorganisation beigetreten (ohne seitdem die Mitgliedschaft zu kündigen), besucht zum Finale seines Films den Hollywood-Star, Reagan-Freund und NRA-Präsidenten Charlton Heston. Nachdem er sich mit seinem alten NRA-Ausweis Zugang zur Villa des Schauspielers verschafft hat, verlangt er von Heston eine Stellungnahme zum Tod eines kleinen Mädchens. Es wurde in Moores Heimatstadt Flint, Michigan, von einem kaum älteren Jungen erschossen, nachdem er im Haus eines Onkels eine schussbereite Waffe entwendet hatte. Moore argumentiert, zwischen den Lebensbedingungen des Kindes (die allein erziehende Mutter muss im Rahmen eines „Wohlfahrtsprogramms“ einem unterbezahlten Pendeljob nachgehen), der frei herumliegenden Waffe und der rassistischen Lynch-Stimmung, die sich nach dem Mord in der Stadt Bahn brach, existiere ein kausaler Zusammenhang.

Schließlich will Moore wissen, warum die NRA am Tag nach der Tat ausgerechnet in Flint eine Großveranstaltung abgehalten habe, auf der auch der Schauspieler aufgetreten ist. Heston schweigt, erhebt sich aus dem Regiestuhl in seiner kleinen Hollywood-Gedächtnis-Ecke und geht wort- und verständnislos an seinem Pool entlang davon.

Mit „Roger & Me“ (1989) gelang es Moore erstmals, durch Hartnäckigkeit und Respektlosigkeit die Verhältnisse zwischen lokalen Notlagen und globalen Businesskonzepten anschaulich zu machen. Diesem Prinzip blieb er seitdem treu. Auf der wahrheitspolitischen Suche nach dem big picture wird kräftig Komplexitätsreduktion betrieben. Moore biegt sich die Verhältnisse so zurecht, dass sie seinem (Selbst-)Inszenierungsstil entsprechen. Das Ergebnis sind keine wohlkomponierten Kunstwerke, sondern wüst zusammengekippte Thesen- und Bilderhalden. Ästhetisch anspruchslos, aber dafür Anlass für Streit, Widerrede, Verärgerung, kurz: Gesprächsstoff.

Dazu beweist Moore im Fall von „Bowling for Columbine“, der weitgehend vor dem 11. September entstand, ein perfektes Timing. Die US-Regierung beansprucht wie selbstverständlich den Gebrauch von Waffen aller Art für ihre weltinnenpolitischen Polizeiaktionen; der Amoklauf von Erfurt oder der „Sniper“ von Washington beherrschen wochenlang die Medien – da kommt ein unterhaltsames „mockumentary“ (Moore) über die komplexen Beziehungen zwischen den Machenschaften der NRA, dem Treiben rechtsradikaler Milizen, dem Massaker in Littleton, Clintons Kosovo-Engagement und der liberalen Waffengesetzgebung in den USA gerade pünktlich.

In den USA sterben jährlich rund 11.000 Menschen durch Schusswaffen, weit mehr als in jedem anderen Land, in dem nicht gerade Krieg herrscht. Aber wo werden die Grenzen zwischen Krieg und Nichtkrieg plausiblerweise gezogen? Während der war on terrorism auf Hochtouren läuft, ist dies eine der impliziten Fragen von „Bowling for Columbine“. Befindet sich die amerikanische Gesellschaft längst im Kriegszustand? Oder muss eher ein Arzt her, der den Patienten „Amerika“ von seinem Wahn erlöst?

Ratlos, aber rastlos häuft Moore einen Bilderberg aus Interviews, Reportagen und Archivmaterial an. Auf der Spitze steht eine steile, durch einen satirisch-didaktischen Trickfilm illustrierte These, die sich an Richard Slotkins Konzept der Mythologie der „Gunfighter Nation“ anlehnt. Die allgegenwärtige Paranoia ist danach historisch begründet, denn schon die ersten Siedler waren auf der Flucht, fühlten sich dann auf dem neuen Kontinent von den Eingeborenen bedroht, bald auch von Hexen, von den Briten und im besonderen Maße von den afrikanischen Sklaven und deren Nachkommen. In den Händen ihrer politischen und medialen Multiplikatoren entwickelte sich die Angst zum ideologischen Instrument par excellence. Rassismus und die Aufforderung zum Waffenbesitz, im zweiten Zusatz zur US-Verfassung verankert, ergänzten sich mühelos. NRA und Ku-Klux-Klan entsprangen dem gleichen revanchistisch-paranoiden Geist.

Die amerikanische Kultur der Angst wäre somit einerseits nationalmythologisch verankert; andererseits wäre sie das Geschöpf einer Allianz von Politik und Medienökonomie, die in den letzten Jahren die Angstproduktion verschärft und perfektioniert habe. Der Soziologe Barry Glassner, dessen Bestseller „The Culture of Fear“ eine weitere Basis von Moores Film bildet, diagnostiziert eine nationale Pathologie, die sich einer langen Liste unbegründeter Ängste verdankt: Die Nachrichten und Politikerreden seien gespickt mit übertriebenen und rassistisch gefärbten Kriminalitätsstatistiken, mit hysterischen Seuchen- und Virenwarnungen, mit abstrusen Geschichten über Außerirdische, „Monstermütter“ und eine gefährdete Jugend.

Im Juni 1999, kurz nach Beendigung des Nato-Bombardements von Kosovo und Serbien, suchte Präsident Bill Clinton die Schuldigen für die innere „Kultur der Gewalt“ (Clinton) in Hollywood-Filmen wie „The Matrix“ und in Popkultur-Figuren wie Marilyn Manson. Ein Verdienst von „Bowling for Columbine“ besteht darin, solche Schuldzuweisungen als ideologische Konstruktionen preiszugeben. Der Bigotterie eines politischen und ökonomischen Regimes, das Verunsicherung als Strategie des inneren und äußeren Machterhalts benutzt, setzt Moore den Versuch entgegen, seiner eigenen, persönlichen Verunsicherung eine andere, eine bessere Begründung zu geben.

Das führt oft zu einer irritierenden Sicherheit desjenigen, der sich aus ebenjenen „besseren“ Gründen im Recht wähnt. Wahlweise ungläubig, erschüttert oder zornig stapft Moore durch die Bildräume seines Films, als würde ihm das alles gehören. Sein Übergewicht korrespondiert mit einem soliden Ego, darüber hinaus vertraut der Filmemacher auf die Geltung des kategorischen Imperativs, ein Amerikaner zu sein: Fast gleichgültig, wo man sich gerade auf dem politischen Spektrum befindet, alle suchen nach der „unsichtbaren Republik“, diesem ewigen Gründervater-Versprechen namens U-S-A, das selbst alte Neue Linke wie Greil Marcus neuerdings zu Kriegsbefürwortern macht.

So wird Moore zum Repräsentanten all jener, die nicht mehr verstehen, wie ihnen geschieht. Aber sein Blick auf die USA ist der Blick des Arbeiters ohne Klasse. Als Volksvertreter des Verantwortlichkeitsprinzips verfolgt er einzelgängerisch und individualistisch, narzisstisch und überheblich seine Mission: den Irrsinn einer selbstvergessenen, kranken Nation zu dokumentieren, auf dass sie irgendwie wieder gesund werde.

Dabei bleibt der Versuch, die tödlichen Schüsse eines kleinen Jungen mit den prekären sozialen und familiären Verhältnissen zu erklären, in denen das Kind aufwächst, ebenso als loses argumentatives Ende liegen wie eine Parallele, auf die im Zusammenhang mit der Schießerei an der Columbine Highschool in Littleton hingearbeitet wird: Moore recherchiert die Hintergründe der Ereignisse vom 20. April 1999, als Dylan Klebold und Eric Harris zwölf ihrer Mitschüler, sich selbst und einen Lehrer töteten. Aber in welcher Verbindung steht das Massaker an der Schule eines Vororts von Denver mit der Tatsache, dass am gleichen Tag der bis dahin schwerste Luftangriff der Nato während des Kosovokrieges gestartet wurde? Wie viel Bedeutung soll man dem Umstand beimessen, dass der größte Arbeitgeber in Littleton der Flugzeughersteller Lockheed Martin ist? Und welche Rolle spielt es, dass Charlton Heston nicht weit von Moores Heimatstadt Flint aufwuchs? In einer orgasmischen Montage heterogener Archivbilder greift Moore schließlich zu Louis Armstrongs „What a Wonderful World“, als könne der Zusammenhang des disparaten Materials nicht anders gerettet werden. Ein deutliches, wenn auch zynisches Zeichen der Verlegenheit.

Der klügste Gesprächspartner in „Bowling for Columbine“ ist Marilyn Manson. Moore sitzt Backstage mit dem bühnenfertig aufgetakelten Musiker zusammen, im Hinterzimmer jener Horrorshow, die der Glam-Schock-Rocker zur Ergötzung eines angeblich von Gewaltphantasien geschüttelten Teenager-Publikums inszeniert. In abgewogener Diktion äußert sich Manson zu der öffentlichen Kampagne, die nach den Morden von Littleton gegen ihn angezettelt wurde. Ein abwegiger Rock-’n’-Roll-Freak wie er eigne sich einfach hervorragend als poster boy, der die Systemfehler einer von Angst und Konsum gesteuerten Gesellschaft verkörpere. Auf Moores Frage, was er den Kids von Littleton mitteilen würde, wenn sich dazu die Gelegenheit ergäbe, antwortet Manson: Er würde mit Sicherheit nichts sagen, sondern ihnen ausnahmsweise mal zuhören.

„Bowling for Columbine“; Regie: Michael Moore, mit Michael Moore, Charlton Heston u. a., USA 2002, 122 Minuten