dieter baumann über Laufen
: Wenn ein dünner Hering zischt

Mit der „Nasenatmung“ ist das Nirwana nicht mehr fern, glauben manche Sportgurus. Ein Selbstversuch

Je mehr Leute hierzulande laufen, umso mehr Mythen und Geheimnisse scheinen sich um das Laufen zu ranken. Die „Nasenatmung“ beispielsweise. Nasenatmung? Wie geht denn das, werden Sie zu Recht fragen.

Trotz großem Vorstellungsvermögen in Sachen Laufen wollte auch mir keine befriedigende Antwort darauf einfallen. Unentwegt priesen die Erfinder dieser ausgefallenen Atemtechnik beim Laufen sogar „Nirwana-ähnliche Effekte“ an. Die „Findung zu sich selbst“, wenn man mit geschlossenem Mund zum Dauerlauf aufbricht? Was liegt näher, um dieser Frage nachzugehen, dachte ich, als ein Selbstversuch. Locker, entspannt und erwartungsvoll machte ich mich auf den Weg.

Allerdings war ich bald so damit beschäftigt, aktiv meine Lippen aufeinander zu pressen, um den Mund beim Atmen nicht zu öffnen, dass ich fast den eigentlichen Grund meines Tuns vergaß: das Laufen. Irgendwann rang ich meinem Körper dann doch eine Art Laufbewegung ab. Meine Nase, sicherlich nicht gerade die kleinste ihrer Art, entwickelte zu meiner Überraschung rasch die Fähigkeit, beide Flügel wie zwei riesige Elefantenohren vom Körper abzuspreizen. Zu meinem Glück waren keine Spaziergänger unterwegs. Trotz meiner sehr schnellen Anpassungsfähigkeit wollte der Luftstrom irgendwie doch nicht den direkten Weg zur Lunge finden.

Zunächst breitete sich die feuchtkühle Novemberluft in den Nebenhöhlen aus. Nach nur wenigen Minuten war meine Stirn von außen und auch von innen eisgekühlt. Der kostbare Sauerstoff prallte dann ein wenig in meinem Gehörgang hin und her und verursachte ein schwer einzuordnendes Geräusch. Beim Einatmen schaute ich ganz besorgt in den Himmel: Ich hätte schwören können, ein Heißluftballonfahrer versucht durch panisches Anheizen der Gasflamme eine Notlandung zu verhindern. Das Geräusch beim Ausatmen erinnerte mich hingegen an meine Kindheit. Es klang wie damals, als ich als kleiner Bub und Teilnehmer eines Zeltlagers in Windeseile die Luft aus einer Luftmatratze zu pressen versuchte. Ich faltete sie zweimal, sprang mit den Knien voran und meinem ganzen Körpergewicht darauf, damit die Luft möglichst schnell herauszischte. Am besten hörte es sich an, wenn fünf Jungs diese Übung gleichzeitig vollführten. Dann zischte es nur noch so um uns herum. Gewonnen hatte derjenige, welcher seine Matratze am schnellsten platt gemacht hatte. Als dünner Hering hatte ich natürlich nie eine Chance.

Bei meinem Dauerlauf am Neckar hatte ich auch jetzt den Eindruck, dass es nur so zischte. Allerdings nicht um mich herum, sondern nur in mir selbst. Schon nach wenigen Laufminuten nasenatmend dem Nirwana ganz nah? Glückselig lächelnd trabte ich weiter. Nach drei Kilometern verließ ich das flache Flusstal und gelangte auf einen steil nach oben führenden Pfad. Zu überwinden war ein terrassenförmiger Anstieg. Meine Nase weitete sich, schien mit der ihr plötzlich zugeteilten Aufgabe wirklich zu wachsen. Noch mehr Sauerstoff war nötig. Aber wie ausatmen? Als Nasenatmungsanfänger war ich – noch – nicht in der Lage, durch das linke Nasenloch ein- und durch das rechte auszuatmen. Irgendwie prallten im Naseninnern die beiden Luftströme aufeinander.

Meine Sauerstoffversorgung drohte zusammenzubrechen. Eine schnelle Lösung musste her. Nix mehr war es mit glückselig lächelnd laufen und dem Nirwana. Dafür lernte ich die Grenze zum bedrohlichen Erstickungstod kennen. Reflexartig öffnete sich mein Mund. „Nein“, schrie eine innere Stimme, „nicht durch den Mund atmen.“ Ich presste meine Lippen aufeinander. Meine Atemzüge wurden kurz, ich presste durch meine beiden Nasenflügel so viel Luft, wie ich nur konnte. Das Schnauben erinnerte mich an die Dampfzüge, die jeden Sonntag das Neckartal entlang nach Rottenburg fahren. Nach vier, fünf Schritten bergan half auch das nicht mehr. Befreiend riss ich meinen Mund auf und holte nach gut zwanzig Minuten zum ersten Mal tief Luft. Meine Lungenflügel weiteten sich, wie sie sich noch nie zuvor geweitet hatten. In mir spürte ich auf einmal mein Herz schlagen und wie es sich nun endlich wieder beruhigte. Was für eine Erfahrung das ist, kann ich Ihnen kaum beschreiben.

Und was habe ich auf diesem Weg zu mir selbst entdeckt? Dass ich das Nasenatmen doch lieber den Gehern überlasse.

Fragen zum Laufen?kolumne@taz.de