Grenzüberschreitung, radikal

Tanz durch Raum und Zeit: In Felix Ruckerts „Secret Service“, derzeit zu Gast im Rahmen der Kampnagel-Reihe „Reiß mich auf!“, schafft die Tänzer-Zuschauer-Interaktion neue Erlebnisräume

von MARGA WOLFF

Frühes Erscheinen ist ratsam. Ansonsten kann es passieren, dass man zwei Stunden wartet, bis die zuvor gezogene Nummer in roter Leuchtschrift auf dem Digitalanzeiger erscheint und den Zutritt ins Leiblabor der Sinnlichkeit gewährt. Der Berliner Choreograph Felix Ruckert ist nach langer Zeit wieder in der Stadt. Und spätestens seit seinem Erfolg mit Hautnah!, der Eins-zu-eins-Begegnung von Tänzer und Zuschauer auf engem Raum, mit der er 1996 auf Kampnagel gastierte, gelten seine Inszenierungen nicht nur in der Tanzszene als Kult.

Die Grenzen zwischen Darstellern und Publikum fordert er heraus, radikal und konsequent. Mit Secret Service, derzeit zu Gast im Rahmen des Kampnagel-Themenblocks „Reiß mich auf!“, hat er nun zum ersten Mal den tänzerischen Kontext überschritten. Teilweise zumindest. Auch wenn es vielleicht angehen mag, die gezielten Körperreizungen ebenfalls als Tanz auf der nackten Haut zu interpretieren. Und schon deshalb ist eine frühe Startnummer ratsam. Um nämlich überhaupt noch eine Chance zu haben, an die Reihe zu kommen, wenn man nach einer weitgehend funktionalen Bewegungserfahrung Lust verspürt, in erotische Zonen vorzustoßen.

Betriebsamkeit wie auf einem Bahnhof herrscht derweil im Kampnagel-Foyer. Aufgeregte Stimmung unter den Wartenden, ein entrücktes Lächeln auf den Gesichtern derer, die wieder aus der Tür treten.

Doch gibt es inmitten der Hektik einen Zufluchtsort. In Katharina Oberliks Showroom wird der Mensch zum Ausstellungsobjekt und darf dabei dennoch zwölf Minuten der Abgeschiedenheit in dem gläsernen Kasten der Hamburger Künstlerin genießen.

Das Schauen ist dagegen in Ruckerts Secret Service untersagt. Die Zeremoniemeisterin, ein elfengleiches Wesen, kniet in asiatisch anmutender Ehrerbietung am Boden, flüstert einem die Regeln zu, legt dann jedem eine schwarze Binde um die Augen. Die Griffe an Armen und Schultern werden fester. Ein gegenseitiges Führen, Abstoßen, Ranziehen – zuerst langsam, dann schneller – ein Tanz durch Raum und Zeit beginnt. Mit gekonntem Dreh wird man auf den Boden gelegt, auf einen wolligen Teppich. Wieder auf den Füßen, drängt jemand zum Rennen. Bilder werden wach, von einer Flucht durch Straßenschluchten, getrieben dicht an dicht, von einer Ecke zur nächsten. Filmriss. Abgestellt auf einem Stuhl findet man sich wieder, allein. Von Ferne ist ein rhythmisches Klatschen zu hören. Es muss die Peitsche sein. Auch unsichtbar trägt die Anwesenheit dieser Masse an sinnlich und auch sexuell stimulierenden Reizen zur Aufladung der Atmosphäre bei.

Secret Service wirkt als eine ausgeklügelte Gesamtinszenierung, angefangen beim Behördennummernzähler über Empfang und eigens komponierte Musik bis zum choreographierten Parcours, bei dem man durch die Hände von zwölf Tänzern geht. Ein Ritual, bei dem Phantasie und Sinne ihre ureigene, innere Erlebniswelt zusammenbrauen. Die Luft scheint hier drinnen irgendwie dicker, in der Anonymität aber auch schützender. Christian Meyers elektronische Soundkomposition öffnet zusätzliche Dimensionen, trägt und treibt und drückt mitunter enervierend auf den Puls.

weitere Vorstellung: 24. 11., ab 20 Uhr, Kampnagel, k2