Be there or be square

Erfahrungen von einem ganz andren Schulalltag: Über engagierte und ideenreiche Lehrerinnen, die abends Kellnern, weil ihr Lohn nicht reicht. Über Schüler, die vom „School Spirit“ beseelt sind und alles für ihre Schule geben

Nach der 10. Klasse wollte ich ins englischsprachige Ausland. In England war ich schon einmal und Australien war zu teuer, aber die USA interessierte mich. Ich wollte das wirkliche Leben dort kennen lernen.

Meine erste Schulstunde an der Sam Barlow High School fing an mit dem Satz: „Du gehörst gar nicht in diesen Kurs“. So etwas hatte es bei „Clueless“ nicht gegeben und die Realität in Form meines Lehrers baute sich vor mir auf und wedelte mit der Kurs-Liste vor meinem Gesicht herum. Dabei hatte Mr. Dickey, mein Wirtschaftslehre-Lehrer, nur nicht richtig auf meinen Stundenplan geschaut. Also musste ich durch das Menschengedränge des ersten Tages zurück zum Stundenplaner, um sie auf den Irrtum aufmerksam zu machen. Sie hatte ihr Büro versperrt und sich im Türrahmen eingerichtet. Durch den Lärm des ersten Tages wies ich sie auf das Problem hin, doch sie schickte mich einfach zurück. Mr. Dickey war sehr Überrascht mich wieder zu sehe, sah aber dann seinen Fehler ein.

In den ersten Wochen stellte sich mir noch so manches Hindernis in den Weg, z.B. mein kaputter Locker. Das ist ein Schrank, der als Depot für alle ungenutzten Schulsachen, Jacken, Süßigkeiten und diverses anderes Zeug genutzt wird. Das Problem war, dass mein Schrank kein Schloss hatte, das nimmt dem Wort Locker irgendwie seinen Reiz. Ein Besuch bei Fred Meyer und die Investition in ein kleines Vorhängeschloss schafften Abhilfe. Den Schlüssel trug ich seitdem immer bei mir und träumte des Öfteren, dass ich ihn verlieren würde.

Die Locker wurden auch sehr gerne zu Plakationszwecken verwendet. Ich war im Schwimmteam und jedes Mal wenn wir einen Wettkampf hatten, hingen kleine Poster an den Lockers der Schwimmer. Zettel mit Parolen wie „Beat ‚em“ oder „Bruins rule“ sollten uns schon mal auf den Kampf vorbereiten. Der Bruin, ein großer Bar, war unser Maskottchen, unsere Schulfarben waren Gold und Blau. Zum Glück dominierte aber mehr das Blau an unserer Schule, goldfarbene Badeanzüge hätten wohl sehr viele Schwimmambitionierte verschreckt .

Zu meinem Leidwesen wurde ich jeden Morgen um 6 Uhr von Cindy Laupers „Girls wanna have fun“ geweckt. Dieser Song schien das Lieblingslied meiner Gastschwester zu sein und ihr CD Wecker gesellte sich oft zu dem verlorenen Schlüssel dazu und so hüpften sie Hand in Hand durch meine Träume, bis Cindy wieder bekannt gab, dass Mädchen nur Spaß haben wollen. Wenn ich Glück hatte und mich unser Hund Meesha, eine Mischung aus Rottweiler und Schäferhund, nicht für einen kleinen Frühimbiss hielt, kam ich unbeschadet aus dem Haus. Die Fahrt mit dem Schulbus dauerte über eine halbe Stunde, obwohl wir nur 10 Autominuten von der Schule entfernt wohnten. Wir wahren eben die Ersten, die von Ruth abgeholt und in Begleitung von Garth Brooks und Le Ann Rimes, in einem großen Bogen zur Schule geschaukelt wurden.

Es gab drei verschiedene Schultage, den D-day an dem man alle Kurse hatte, den A-day an dem man nur den ersten, dritten, fünften und siebten Kurs hatte und den B-day an dem man den zweiten, vierten, sechsten und Hausaufgabenhilfe (AT) hatte. Während dieser Zeit konnte man aber auch nach Hause gehen, in den Computerraum oder in die Cafeteria. Direkt nach der letzten Stunde um 15 Uhr trainierte ich mit der Schwimm-Mannschaft im schuleigenen Pool bis 18 Uhr. Wenn wir keinen Wettkampf hatten, die normalerweise bis 22 oder 23 Uhr gingen, fuhr ich nach Hause, machte Hausaufgaben oder traf mich mit Freunden.

Jeder, den ich kannte, engagierten sich auf die eine oder andere Weise für die Schule. Die Aktionen gingen von Autowaschen, um Geld zu sammeln, über sich abends treffen um die Schule zu verschönern, bis zu allen außerschulischen Aktivitäten. Durch das Maskottchen, den eigenen Barlow Song und das Tragen der Schulfarben identifizierten sich die Schwüler mit ihrer Schule.

„School Spirit“ war das Zauberwort. Die Bruins waren stolz auf Barlow, sogar der Vizedirektor beendete keine Rede ohne dass er „Go Bruins“ sagte, und taten nichts, was sie in Verruf gebracht hätte. Es gab keine Verschmutzung oder Zerstörung auf der Barlow High. So hatten die Schüler z.B. freien Zugang zu den Computern, denn niemand rechnete damit, dass sie irgendwie beschädigt würden.

Natürlich waren die Videokameras nicht ganz unschuldig daran. Die Gänge und Höfe wurden den ganzen Tag lang überwacht. Außerdem brauchte man zum Verlassen des Raumes einen Ausweis. Das waren neongelbe Zettel, die von den Lehrern ausgestellt wurden und auf denen der Zielort angekreuzt wurde: Locker, Toilette usw. Natürlich sorgt eine solche Überwachung auch für Diskussionsstoff, aber vielleicht muss man Kompromisse schließen. So waren die Kameras ganz neu installiert und wurden begründet mit der Hoffnung, nun Präventionsmaßnahmen gegen eventuelle Amokschützen getroffen zu haben. Durch die Intercom wurden die nächsten Wettkämpfe oder Discotermine, Geburtstage und, das fand ich aber etwas makaber, der Unfalltod der Mutter einer Mitschülern bekannt gegeben.

Es war schwierig, mich auf diese Situation einzulassen. Diese starke Identifizierung kannte ich aus Deutschland nicht. Hier hat die Schule auch nicht diesen hohen Stellenwert im Leben der Schwüler. Die meisten Jugendlichen verbringen ihre Freizeit woanders, z.B. in Sportvereinen, Theatergruppen, Umweltgruppen oder einfach mit Freunden. Meine Freunde gingen in die Sportclubs, Theatergruppe oder Umweltgruppen der Schule, in denen sie ihre Freunde trafen. Wie die Identifizierung mit der Schule war auch die Identifizierung mit dem Land sehr verbreitet. Bei uns gab es nicht jeden Morgen einen Fahnenappell, aber bei Versammlungen begaben wir uns in die große Turnhalle durch die Spaliere der Cheerleader auf die ausgefahrenen Tribünen, sahen gen Stars & Stripes, legten die Hand aufs Herz und hörten der Hymne und dem Barlow Song zu. Ich habe meine Hand nicht erhoben, aber das wurde respektiert.

Der Unterricht ist anders als in Deutschland. Das wird alleine schon an der Fächerauswahl deutlich. Es gab nicht so etwas Spektakuläres wie Tiefseetauchen oder Filmedrehen, wie manche Prospekte versprechen, schließlich lag die Schule in Oregon. Aber das hiesige Angebot hatte auch eine riesige Bandbreite. Bei der Stundenplanerin bekam ich ein dickes Heft in die Hand gedrückt und sollte daraus meine Kurse aussuchen. Sie fragte mich, ob ich irgendwelche Vorgabe von der Schule hätte. Ich bejahte das und suchte mir meine Kurse mit diesem Hintergedanken aus. Das es meiner deutschen Schule egal sein würde, welche Fächert und welche Noten ich bekam, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber mit den Plan, gleich in die 12. Klasse einzusteigen, befolgte ich die Anweisungen. Ich belegte Mathe, Bio, Sport, Französisch usw. Als Vorgabe der High School musste ich Wirtschaftslehre belegen. Es gab nicht nur einfach das Fach Englisch, sondern es wurde unterteilt in verschiedene Kategorien. Ich sagte Petty, dass ich gerne Journalismus belegen würde. Sie sagte okay und schrieb mich ein für Creative Writing und Comedy/Tragedy. Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt oder der kleine künstliche Wasserlauf in ihrem Büro – hatte eine zu beruhigende Wirkung auf sie. Jedenfalls war diese Verwechslung das Beste, was mir passieren konnte. Genauso wie meine Geschichtskurse, die für mich eine perfekte Mischung waren. Nachdem ich Petty sagte, dass ich mich auf Geschichte konzentrieren wolle, schrieb sie mich in einen besonderen Kurs ein. Während dieses Kurses mussten wir uns ein Jahr mit einem bestimmten Thema auseinander setzen. Das Ziel war es recherchieren zu lernen und am Ende einen Aufsatz darüber zu schreiben. Außerdem musste der Ordner mit den Nachforschungen abgegeben werden. Ich erforschte, ob 1947 wirklich ein UFO abgestürzt ist oder nicht.

Noch jetzt, wenn ich durch dieses dicke, orangefarbene Heft blättere, muss ich über die Vielfalt der Fächer staunen. Das US-amerikanische Schulsystem mag nicht so hohe akademische Ansprüche haben wie deutsche Schulen, aber es geht auf die Interessen der Schüler ein, welcher Art sie auch sein mögen. Allein die künstlerischen Fächer, die hier ja eher verkümmern, waren dort in so einem großen Spektrum angeboten wie die Mathematikkurse. Wir waren eine relativ kleine Schule mit nur 1800 Schülern hatten aber 8 Chöre, 8 Bands, Musikklassen, Kunstklassen, die noch einmal unterteilt waren in Öl- oder Aquarellmalerei, Töpfern, Skulpturen hauen, Fotographie usw.

Neben diversen Schauspielgruppen gab es einmal im Jahr auch eine Übergreifende Produktion, bei der die Rollen nach einem Vorsprechen vergeben wurden. Es war aber nicht nur eine Übungsmöglichkeit für Schauspieler, sondern sollte auch Leuten, die in Maskenbildnerei, Ton , Kulisse oder Regie Interesse hatten, die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu sammeln. Als Hamlet aufgeführt wurde, beteiligte sich sogar der Marketing Kurs in Form von Werbeslogans, Postern und Broschüren an der Produktion.

Meine Lehrer waren genauso wie die Schüler unglaublich engagiert und ideenreich. Meine Mathematiklehrerin Mrs Hill war geschieden, hatte zwei Söhne und ging abends nach der Schule kellnern, da sie nur schwer von ihrem Lehrergehalt leben konnte. Trotzdem war sie jeden Tag unglaublich gut gelaunt und erzählte uns mit viel Humor ihre Alltagsgeschichten. In Geschichte hatten wir am Anfang des Jahres eine Griechenlandsimulation. Wir trugen alle Togen, waren in Städten eingeteilt , mussten Tempel bauen, die Olympischen Spiele feiern, das Orakel befragen und diskutieren. Mr. Kierstein ließ es sich nicht nehmen, einen Lorbeerkranz zu tragen.

Das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern war persönlich. Das bringt zum Teil eine Sprache ohne die Form des höflichen „Sie“ mit sich. In der Schule schien der Lehrer immer präsent und ansprechbar zu sein. Sei es in der Mittagspause oder während des AT, bei Fragen oder Problemen war er immer zu erreichen. Die Leistung der Schüler schien ihnen am Herzen zu liegen. Ich habe nicht erlebt, dass jemand übergangen oder mitgeschleift wurde. Wenn Mrs. Young mitbekam, dass jemand ihrem Französischunterricht nicht folgen konnte, lud sie ihn/sie ein, während des ATs zu ihr zu kommen, damit sie noch einmal langsam die Thematik erklären konnte. Die meisten nahmen dieses Angebot an.

Die Klausuren oder Arbeiten waren nicht so schwierig wie in Deutschland. Dafür haben wir jede Woche eine Arbeit oder einen Test geschrieben. Biologie war das einzige Fach, in dem manchmal multiple choice test geschrieben wurden. In Creative Writing mussten wir als Leistungsbeweis 12 selbstgeschriebene Gedichte und eine fertige Geschichte abgeben.

Egal ob Schüler oder Lehrer, sie alle haben sich sehr für Europa, Deutschland und mich interessiert. Natürlich war vieles davon nur oberflächlich, aber es war ein guter Gesprächseinstieg, erst einmal zu erklären, dass wir in Deutschland auch Autos und Elektrizität besitzen. Die meisten kannten unsere Verhältnisse aber gut.

Es sind die kleinen und außergewöhnlichen Details, die eine Zeit unvergesslich werde lassen und davon habe ich zwischen Mr. Dickeys Irrtum und dem Handschlag des Direktors bei der Graduation Tausende erfahren.

Sarah Kamp