Ein bildungspolitischer Alptraum

Glück gehabt! PISA erschüttert die Bremer Bürger, doch der Koalitionsausschuß naht zur Rettung. Meinungen und Kritik, Rückblicke und Aussichten rund um einen Schülervergleichstest, nach dem nichts mehr so ist, wie es war...

Program for International Students Assessment - Hinter der griffigen Abkürzung PISA versteckt, sind diese Worte zum Schandfleck auf der weißen deutschen Weste geworden. Seit die Ergebnisse des Schülervergleichstests veröffentlicht wurden und das schlechte Abschneiden Deutschland aufgeschreckt hat, kochen die bildungspolitischen Emotionen hoch.

Die Eltern zeigen sich um den Bildungsstand ihrer Kinder besorgt wie nie zuvor, die Lehrer, schnell als Schuldige an der Misere ausgemacht, reichen den schwarzen Peter an die Bildungsbehörde weiter und die Politiker sehen ihre große Stunde gekommen. Während bei der SPD Katzenjammer herrscht und Henning Scherf seine sozialdemokratische Alleinschuldthese aufstellt, präsentieren die Parteien jeglicher politischer Couleur den optimalen Weg aus dem Tal der Tränen. Dass es sich dabei um die jeweilige parteiinterne Linie zur Bildungspolitik handelt, darf guten Gewissens als Zufall abgetan werden.

Doch schaut man in diesen Tagen natürlich auch über den Tellerrand. Schamlos wird von den anderen, vornehmlich besser platzierten Ländern abgekupfert, was ja an sich nicht schlecht ist, doch wird dabei anscheinend manchmal vergessen, dass es eigentlich um unser Bildungssystem und nicht um den Platz in der Rangliste geht.

Wir können wir uns vielleicht sogar freuen, dass Deutschland so schlecht abgeschnitten hat, denn wären alle anderen Ländern noch schlechter gewesen, hätten diese nun von uns abgekupfert, und das, obwohl unser System und unsere Verhältnisse dadurch kein Stück besser gewesen wären.

Aber nicht nur die unterschiedlichen Schulformen, sondern auch die Einstellung von Schülern und Lehrern zum Unterricht wird beim analysierten Vergleich der Länder argwöhnisch beäugt. So finden sich immer wieder aufrechte Bundesbürger, die das beschämende Abschneiden des deutschen Bildungsnachwuchses abzumildern versuchen, indem sie äußern, dass unsere Schüler ja gar nicht richtig auf den Test vorbereitet gewesen seien, während andere - überwiegend fernöstliche Länder - sich monatelang mit dem Stoff beschäftigt hätten. Auch hätten sie nicht um die Bedeutung des Testes gewusst und so nicht die notwendige Ernsthaftigkeit aufgebracht.

Hierüber allerdings gehen die Meinungen der Schülerinnen und Schüler, die immerhin als einzige unmittelbar nicht nur mit dem Test, sondern auch mit seinen Auswirkungen zu tun haben, auseinander. Caspar, der die 12. Klasse des Kippenberg Gymnasium besucht, meinte, er habe damals ernsthaft gearbeitet: „Ich habe geleistet, was ich leisten konnte. Es herrschte eine konzentrierte Atmosphäre, und soweit ich das beurteilen kann, war es bei den anderen genauso.“

Christina, ebenfalls 12. Klasse, war zu der Zeit an der Gesamtschule Mitte: „Bei uns war die Stimmung eher nach dem Motto Dann haben wir keinen Unterricht. Dementsprechend bin ich an den Test rangegangen, und das war auch allgemein die Regel.“

In die gleiche Kerbe haut auch Ilke, damals Schüler der Gottfried-Menken-Straße: „Der häufigste Satz war Ja, geil, drei Tage schulfrei. Wir hatten drei Stunden Zeit und die meisten waren nach anderthalb fertig.“

Einig sind sich die drei jedoch, wenn es darum geht, wie der Test angekündigt wurde. „Es wurde nur erzählt, dass es ein Vergleichstest zwischen Schulen sei“, so Caspar, „in welchem Ausmaß das ganzestattfand, wurde uns nicht gesagt.“ Laut Ilke haben die Schüler erst zwei Tage zuvor Bescheid bekommen: „Uns wurde gesagt, dass PISA in der ganzen Welt geschrieben wird.“

„Sie haben erzählt, in welchen Ländern der Test geschrieben wird“, ergänzt Christina, „aber wir haben nicht gewusst, dass es später in den Medien so breitgetreten werden würde.“

Tatsächlich füllte die Nachricht vom Versagen der deutschen, und später der Bremer Schüler die Frontseiten der Tageszeitungen, Magazine widmeten ihm ihre Titelgeschichten und -blätter, und Experten über Experten gaben ihre fundierte Meinung zu dem Thema kund.

Nachdem es dann eine Weile ruhig um PISA geworden war, schlug der Bremer Koalitionsausschuss zu, und veröffentlichte seinen Plan zur Rettung des hansestädtischen Schulsystems.

Das Aus für die Orientierungsstufe und die mögliche Selektion nach der Grundschule, Abitur nach zwölf Jahren, Trennung der Schulen in Haupt- und Realschulzentren und durchgängige Gymnasien, Noten ab der dritten Klasse - all das wurde als Weg aus der Misere präsentiert.

Die Koalitionsvereinbarungen zwischen SPD und CDU umfassen aber noch andere Punkte.

So sollen einer ihrer Ideen entsprechend notorische Schulschwänzer künftig mit einer Kürzung des Kindergeldes bestraft werden. Die Vergleichstest, die unter dem Namen USUS noch eine organisatorische Pleite waren, sollen künftig in den Klassen 3, 6, 9 und 10 durchgeführt werden, um den einheitlichen Standard zu sichern.

Dieser Standard ist auch die Grundlage für das geplante Zentralabitur, das in Bremen für vergleichbare Abschlüsse sorgen soll - dass damit auch Freiheit bei der Unterrichtsgestaltung verloren geht, wird anscheinend in Kauf genommen.

Der letzte Satz des Koalitionspapiers besagt, dass die staatliche Unterstützung von Privatschulen auf Bundesniveau angehoben werden soll. Was das allerdings mit dem schlechten Abschneiden der deutschen Schüler bei PISA zu tun hat, konnte bis jetzt nicht ans Licht gebracht werden.

Doch nicht nur die Politiker sind besorgt, auch die Schülerinnen und Schüler erheben sich aus ihrem lethargischen Winterschlaf und nehmen das Heft selbst in die Hand, wie zum Beispiel im PISA-Workshop beim Infotag der GSV Ende August.

Schülerinnen und Schüler der verschiedensten Alterstufen und Schulformen diskutierten angeregt nicht nur über die Probleme im heutigen Schulsystem, sondern auch über Lösungsansätze. „Es herrschte eine enorme Spannung“, so Lea Voigt, die den Workshop leitete. „Man merkte, dass alle sehr aufgebracht waren.“ Die Ergebnisse wurden dann zwei Monate später bei einem Treffen Bildungsmanager Willi Lemke dargelegt, der extra eine Pause in seine Schulbesuchstournee eingelegt hatte. Über die Folgen dieses Dialogs wird derzeit noch spekuliert, wahrscheinlich ist aber, dass er keine Auswirkungen auf den bildungspolitischen Kurs gen fünfziger Jahre haben wird.

Schlussendlich lässt sich wohl sagen, dass PISA die Aufmerksamkeit der Massen zum ersten Mal seit Jahren wieder in Richtung Schule lenkt, doch ob die Konsequenzen, die momentan aus dem Versagen der deutschen Schüler gezogen werden, sinnvoll für eben diese sind, ist bestenfalls fraglich.

Meiner Meinung nach treibt die aktuelle Entwicklung die Elitenförderung in gleichem Maße wie die Aussonderung der Schwächeren voran. Die Notengebung ab der dritten und die mögliche Zuweisung auf Gymnasium, Real- und Hauptschule nach der vierten Klasse, führen zu einem System, das die Schüler immer mehr in feste, starre Bewertungskategorien presst. Vergleichstests und Zentralabitur ziehen die Schrauben weiter an.

Wenn der Kurs zurück in die bildungspolitische Geschichte so weitergeht, sehen die Rettungsversuche nach PISA 2003 höchstwahrscheinlich folgendermaßen aus: Wiedereinführung der Prügelstrafe, Abschaffung der Koedukation, Hissen der Fahne vor Schulbeginn.

Setzen, sechs! Helge Perplies