Einstige Grenzen sind jetzt grenzenlos erfahrbar

Berlin hat sich verwandelt und bleibt doch voller Klischees, Ostwitze, Westmuff und irgendwie bleibt alles beim Alten. Da schlägt man sich so durch

U- und S-Bahnhof Friedrichstraße. Aus den Tiefen des Untergrunds immer aufwärts, immer aufwärts die Treppen hoch, an den neu eingerichteten Konsumvitrinen und Fressecken vorbei. Wozu braucht man noch Geschäfte oder Restaurants? Hier gibt es alles. Früher waren die endlosen Gänge unter der Erde, teils mit Trennwänden verbarrikadiert, man ging endlos durch den Zeittunnel, an Treppen und Türen, an den gelben Kacheln, den Wänden, die einen Geruch von Desinfektionsmitteln ausstrahlten, vorbei. Lassen die bleichen Gesichter, gepresst in Einheits-Käppis, mich durch? Passierschein, Lichtbildbescheinigung und am Ende der Pass voll von Ein- und Ausreisestempeln aus der DDR. Nach all der Aufregung am Ende dieses endlosen Tunnels, zeitversetzt am Metropol-Theater.

Und nun? Schnell zum Pergamonaltar und dann zum vereinbarten Termin mit Frau Dr. Hickmann, die wunderbare Miniaturen aus dem Tresor holte und uns auftischte. Hungrige Blicke der indischen Kunstfreaks. Nach der Öffnung der Grenze stießen wir, die Nichtdeutschen, auf andere Grenzen. Während die Westdeutschen und Westberliner sorglos die ehemalige Grenze passieren durften, mussten wir wie früher Schlange stehen. Auch die Kopfkissen, die am Alex für billiges Geld angeboten wurden, rückten weiter, denn überall, nach sorgenden Warnungen, standen Neonazis. „Sag mir, wo die Dosen sind, Ossis nahmen sie geschwind …“ „Stellen Sie sich vor, heute hatte Frau W. Krach mit so einer ostzonalen Frau im Supermarkt, weil sie ihr eine Dose Milch wegschnappen wollte.“ „Jetzt sind wir dran, so lange haben wir drüben gewartet.“

Ein unausstehlich dummer Spruch. Auch im Studentenheim, wo Iraner, Araber und ein Koreaner lebten, hört man, wie die Ossis dreimal Begrüßungsgeld abholten, wie Omas und Opas im Rollstuhl zur Bank gefahren wurden. Gab es keine neuen Klischees? Und der Kulturkonsum stieg. Abend für Abend sah man die Klassiker im Deutschen Theater – Egmont. Maria Stuart. Ohne Klamauk.

Hier war die Klassik noch klassisch. Viele von uns hatten Angst, erst die Neonazis, dann Angst um die Studentenjobs, die unser Studium finanzierten. „Wie soll es weitergehen?“ Ich hatte bereits die erste U-Bahn-Fahrt nachts von Pankow ohne Zwischenfälle überstanden, ich wurde nicht einmal wahrgenommen. Der Empfang und die Betreuung für die Gruppe von Musikern und Tänzerinnen aus Indien, die ich im Festivaljahr auch durch Rostock und Dresden führen musste, war überwältigend. Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet in Rostock.

Die Ex-DDR hat mittlerweile weitere Tests bestanden. Sehr schnell entwickelten sich Kontakte nach Sassnitz, wo die Mutter einer guten Freundin wohnte. Die Mutter stellte sich als „alte Kommunistin“ vor. Die Besuche, die unsere Freundschaft warm hielten, lehrten uns, alles etwas anders zu betrachten.

Die Mitarbeiter der beiden Staatsbibliotheken waren gleich freundlich und in der Potsdamer Straße hörte man Sächsisch. Der Umgang normalisierte sich schnell auf der akademischen Ebene; egal ob man im Westen oder Osten war, man war schnodderig, wenn es nicht passte, und herzlich, wenn es passte. Wer die Schnauze hatte, boxte sich durch, egal ob im Osten oder Westen. Das war halt Berlin. In den Küchen der Studentenheime wurden auch von den treuen, sehr lieben Mädchen aus dem Osten gesprochen, die viel natürlicher seien als die aus dem Westen. „Sie rennen nicht hinter jedem her“, hieß es. Und sie seien nicht so emanzipiert und unerträglich wie die von hier. Die Storys von Westpaketen, die nicht richtig ankamen, oder von Ostbesuchern, die im KaDeWe „Kulleraugen“ bekamen, kennt man heute nur noch vom Hörensagen. Die Galerien und Boutiquen im Westen heute scheinen vor der Postmoderne weggelaufen, irgendwo aber stecken geblieben zu sein – betulich-geblümt. Im Osten zeigen helle, große Vitrinen den Alltag im Büro – so präsentiert man sich auf dem Potsdamer Platz, in Mitte oder im Prenzlauer Berg. Die Grenze ist nur geografisch und biografisch erfahrbar.

Und die Feinde? Als Kind sah ich einen amerikanischen Film „The Russians are coming, the Russians are coming.“ Ein urkomischer Film. Und heute? „Sag mir, wo die Russen sind – was ist geschehn?“ Auch im fernen Colombo trifft man Russen, die keine Touristen sind.

Asoka De Zoysa, Theaterpädagoge und Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, Colombo