„Gib ihnen etwas zu lesen“

Im taz-Gespräch erzählt Basketball-Bundestrainer Henrik Dettmann, wie er sich seine Mannschaft vorstellt – und warum reife Menschen auch reife Spieler sind. Heute (18.30 Uhr) trifft die deutsche Auswahl in der EM-Qualifikation in Dessau auf Zypern

Interview HENNING HARNISCH

taz: Herr Dettmann, kennen Sie das kürzeste Gedicht der Welt?

Henrik Dettmann: Nein.

Es ist ein Zweizeiler von Muhammad Ali und geht so: „Me. We.“ Wie wichtig ist Ihnen der „Wir“-Gedanke bei Ihrer Arbeit?

Leute werden dazu erzogen, egoistisch zu sein. Dagegen kämpfe ich, seit ich jung bin. Vielleicht ist das mein Kampf gegen den Mainstream des Kapitalismus, der immer sagt: ICH. Dagegen sage ich: Niemand kann sich über ein WIR stellen. Auf den Sport übertragen heißt das: Basketball braucht mich nicht, aber ich brauche Basketball.

Welches sind die Mittel in Ihrem Kampf?

Meine Philosophie ist sehr schlicht: Sei bescheiden und versuche zu lernen. Dabei sollst du natürlich ein gutes Leben haben. Das ist alles. Und ist auch schon die Grundlage meiner Trainerphilosophie: Je mehr man dem Spiel gibt, desto mehr gibt es einem zurück.

Hört sich buddhistisch an. Wie vermitteln Sie diese Weisheiten Ihren Spielern?

Ich versuche nicht zu lehren, sondern zuzuhören.

Beibringen heißt für Sie zuhören?

Es bedeutet, Fragen zu stellen. Am Anfang steht immer die Frage an die Spieler: Warum spielst du Basketball?

Also: Warum sind Sie Basketballtrainer?

Wenn man anderen hilft, hilft man sich selbst – weil man lernt. Das ist der Hauptgrund. Ich bin Trainer, weil ich gerne mit Menschen zusammen bin. Natürlich mag ich aber auch den Wettkampf und den Stress. Einer der interessantesten Aspekte ist, wie mit Niederlagen umgegangen wird. Denn wenn es wirklich schlecht läuft, lernen alle Beteiligten das meiste. Leider wird einem in den seltensten Fällen die nötige Zeit gegeben, weil man schon gefeuert ist.

Der amerikanische Meistertrainer Phil Jackson schreibt in seinem Buch „Sacred Hoops“, eine erfolgreiche Mannschaft aufzubauen sei ein spiritueller Akt.

Am Anfang ist es so, als ob man auf einen fahrenden Zug springen würde. Man springt hinten drauf und arbeitet sich nach vorn vor; so weit, bis man so etwas wie Kontrolle über den Zug hat. Aber man sollte nie denken, dass man den ganzen Zug kontrollieren kann. Dann sollte man wissen, wer im Zug sitzt, wie und was sie denken, die Reisenden. Und dann fängt man an, seine Philosophie zu verkaufen. Ich will einen Dialog führen.

Mittlerweile ein fortgeschrittener. Während der WM diesen Sommer sah man Sie in den Auszeiten mit den Assistenten diskutierten, während sich die Spieler separat austauschten.

Sie sollen ihre Probleme allein lösen. Natürlich gehe ich am Ende zu ihnen und sage, was unsere Lösung des Problems ist. Aber es gab auch schon Situationen, in denen ein Spieler zu mir gesagt hat, Coach, ich glaube, wir sollten es so und so machen. Und wenn das ein vernünftiger Vorschlag ist, dann sollen sie es so machen. Sie müssen ja umgekehrt auch Vertrauen in unsere Lösung haben. Wenn man den Spielern das Gefühl gibt, das ist euer Spiel, wird man das meiste aus ihnen herauskriegen. Meine Verantwortung ist es, die Spieler auszuwählen, mit denen man so arbeiten kann, einen Stil zu finden, die Vision einer Strategie zu haben.

Sie haben selbst bestimmte Spieler im Kopf?

Das ist mein Ziel: eine Mannschaft, die sich selber führt. Ein Beispiel: Als wir 1999 in Paris bei der EM die Olympia-Qualifikation verpasst hatten, sagte ich: Okay, wir sollten zusammen essen gehen. Aber das hat nicht geklappt, aus welchen Gründen auch immer – das spielt heute keine Rolle mehr. Nur so viel: Ich war frustriert. Kurz darauf kam mein Assistent und fragte mich, wie das Programm für das Spiel um Platz sieben am nächsten Tag aussehe. Ich antwortete resigniert, wir fahren 45 Minuten vor Spielbeginn los, das muss reichen. Als er das den Spielern mitteilte, sagten die, nein, wir wollen früher losfahren, wir wollen eine gute Vorbereitung. Jetzt, nachdem wir das WM-Halbfinale gegen Argentinien verloren hatten, sagte die Mannschaft, kommt, lasst uns essen gehen und klarstellen, dass wir die Bronzemedaille morgen gewinnen.

Selbstverantwortung, Selbstbestimmung – wäre diese Arbeitsweise auch in Vereinsmannschaften möglich?

Da wäre es noch besser.

Warum gibt es keine Beispiele?

Vielleicht hat es noch niemand probiert.

Das ist keine gute Antwort.

Die Frage ist, wie viele Trainer haben im Sport die Möglichkeit, ihre ganze Kreativität einzusetzen? Zu oft ist es doch so, dass in den Vereinen die Trainer ausgesucht werden, die am wenigsten gefährlich für das System sind. Sport baut sich auf einer sehr engen Tradition auf, einer sehr militanten und sehr maskulinen. Im Sport herrscht ein bestimmtes Weltbild: Sie akzeptieren Erfolg, aber nur wenn er mit ihrem Denken und ihren Mitteln erreicht wird. Geht jemand andere Wege, verunsichert sie das.

Ein Zitat von Ihnen: Reife Menschen sind reife Spieler. Wie kann ein Spieler, der jeden Tag vier, fünf Stunden Basketball trainiert, als Mensch reifen?

Als ich während der WM das Spiel USA gegen Jugoslawien gesehen habe, da habe ich mir diese Frage gestellt. Da spielte das Mutterland des Basketballs – und was passiert: es verliert. Vielleicht, weil die Spieler keine Ahnung haben, wer sie sind. Wie auch, wenn sie mit 17 aus der High-School direkt in die NBA zu den Profis wechseln – ohne eine Idee von Erziehung, vom Leben? Wie sollen die guten Basketball spielen? Auch wir müssen aufpassen. Wir kriegen hier langsam ähnliche Probleme wie die NBA.

Was kann ein Trainer tun?

Es gibt viele Möglichkeiten: Gib ihnen etwas zu lesen, geh mit ihnen ins Museum, rede mit ihnen darüber. Guck mit ihnen einen Boxkampf auf Video an, lass sie Ali gegen Liston studieren. Frag sie, wer dort warum gewinnt. Basketball ist wie Tanzen. Du musst sie mit anderen Dingen als mit Basketball herausfordern.

Fordern Sie etwa Seminare für die Spieler?

Ich bin kein Prediger. Menschen lernen nicht, wenn sie sich Reden anhören. Anders ist es schon in einer Diskussion, in einem Dialog. Aber letztlich weiß man nie, wann und ob ein Mensch frühzeitig reift, es hängt viel von der Erziehung ab. Wenn ich mir zum Beispiel Dirk Nowitzki angucke, da merkt man einfach, dass er in seiner Jugend einen guten Input gekriegt hat. Deswegen ist er schon so reif.

Was bedeutet Reife im Basketball?

Dass du dein Ego vergisst. Das ist der Hauptgrund, weswegen wir Erfolg haben. Dirk ist das beste Beispiel. Er ist so gut für uns, nicht nur, weil er der beste Spieler ist, sondern weil er eine Persönlichkeit ist und kein Ego hat. Er will immer lernen, er glaubt noch nicht, dass er der Beste ist. Und das ist für den Zusammenhalt immens wichtig. Wenn einer nicht mehr lernen will, ist die ganze Gruppe in Gefahr.

Wenige Philosophen schreiben über Sport, aber noch weniger Trainer schreiben Vorworte in Büchern von Philosophen, die Bücher über Sport schreiben.

Das war für meinen guten Freund Jyri Puhakainen. Er ist ein Sportphilosoph. Das Vorwort habe ich geschrieben, weil ich gedacht habe, sehr gut, da versucht jemand jenseits der Kategorien von Gewinnen und Verlieren über Sport nachzudenken. Letztlich hat er ein Sportsystem angegriffen, das wir als DDR-System kennen. Finnland hat die DDR im Sport kopiert. Sein Buch war gegen ein mechanisches Denken, das im Sport bestimmt, geschrieben. Sport ist wie eine Religion. In dieser Funktion kann Sport sehr hilfreich sein, aber sobald ihn Leute als ein Mittel für Macht missbrauchen, wird es krank.