DIE UNION FLÜCHTET VOR IHRER ERNEUERUNG – IN DIE GESCHICHTE
: Vorsätzlicher Selbstbetrug

Wenn es so schwer zu verstehen ist, dann schreiben wir es an dieser Stelle eben noch einmal: In diesem Land hat am 22. September eine demokratische Wahl stattgefunden, und die Unionsparteien haben diese Wahl verloren. Doch viele Politiker von CDU und CSU wollen offenbar nicht akzeptieren, dass ihnen die SPD den sicher geglaubten Wahlsieg im letzten Moment noch entwunden hat.

Krampfhaft suchen sie jetzt nach Belegen, dass es an jenem 22. September nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Dieser Selbstbetrug beginnt bei dem Versuch, parlamentarische Verfahren mit einem Untersuchungsausschuss „Vorsätzlicher Wahlbetrug“ zu missbrauchen – und es endet vorläufig bei dem abstrusen Vergleich zwischen dem SPD-Wahlsieg 2002 und den NSDAP-Erfolgen in den frühen Dreißigerjahren, den CSU-Generalsekretär Thomas Goppel jetzt angestellt hat.

Der Berliner CDU-Landeschef Christoph Stölzl hatte diese Parallele bereits am Tag nach der Wahl gezogen. Damals konnte man die Äußerung noch als Amoklauf eines Mannes abtun, der das Amt des Kulturministers unter einem Kanzler Edmund Stoiber schon fest in seinen Lebenslauf eingeplant hatte. Das Problem ist nur: In der Union gibt es viele Stölzls – viele Politiker also, die ihre Partei bereits auf der Regierungsbank gesehen hatten und zudem der Ansicht sind, dass nur sie dort legitimerweise hingehört.

Durch das ungeschickte und planlose Regierungshandeln nach der Wahl fühlen sie sich in ihrem Ressentiment bestätigt. Sie schlagen eine Tonlage an, als stünden wir in einer Verfassungskrise. Auch wenn sich die Parallelen, die gezogen werden, in vielerlei Hinsicht widersprechen – sie laufen alle darauf hinaus, dass wir uns in einer Situation befinden, die mit der Schlusskrise der Weimarer Republik vergleichbar ist.

Doch die Einzigen, die eine solche Situation herbeireden, sind Goppel und seine Gesinnungsgenossen. Mag sein, dass sie mit dieser Taktik die bevorstehenden Landtagswahlen gewinnen. Doch sie schaden damit nicht nur der Demokratie – sondern langfristig auch sich selbst, weil der fortgesetzte Selbstbetrug die überfällige Erneuerung der Union blockiert. RALPH BOLLMANN