Wendepunkte im „Vorher/Nachher“

So groß war die Bühne des Schauspielhauses noch nie. Schon vor Beginn der Uraufführung von Vorher/Nachher laufen die Schauspieler zwischen dem bis in die Tiefe des Raums nackten Gebälk verloren herum. Aus dem Vorher wird kaum merklich ein Mittendrin, wenn Christiane von Poelnitz im gnadenlosen Licht nackt vors Publikum tritt und vom Ekel vor ihrem Körper spricht. Aus dem anfangs unangenehmen Eindruck, einer peinlichen Selbstentblößung zuzusehen, wächst nach und nach ein Gefühl der Selbstverständlichkeit und des Verstehens.

In 51 Szenen zeigt Roland Schimmelpfennigs Stück Wendepunkte in der Biographie unterschiedlichster Menschen. Paare lieben und streiten sich, betrügen und verlassen sich. Manche Szenen sind am Rande der Banalität: Da wartet ein Mann stundenlang auf seine im Badezimmer eingeschlossene Frau, die gar nicht daran denkt, endlich zur Party aufzubrechen. Schimmelpfennig weiß solche Schlenker in die Boulevardkomödie zu dosieren. Er durchsetzt seine Alltagsprosa mit intellektuellen und surrealen Miniaturen: Da durchschreitet ein Mann die Grenzen von Raum und Zeit, da bedroht ein außerirdischer Organismus die Erde.

Das mitunter spröde, dialogarme Erzählstück braucht in der Inszenierung von Jürgen Gosch allerdings seine Aufwärmphase. Wiebke Puls als Frau, die ihren langjährigen Partner betrügt, rattert den Prosatext hart herunter, während sie dazu verlegen-verliebt herumkichert. Ihre komische Seite kann die sonst so kühle Christiane von Poelnitz dann in Bademantel und Schlappen als Frau mit wechselnden Identitäten ausleben. Und mit ruhiger Würde beeindruckt Ilse Ritter als alte Frau, die von ihren Gewalterfahrungen erzählt.

Solche Momente inszeniert Gosch ganz groß. Sie zeigen, wie Leben ganz langsam vergeht und die Wendepunkte erst im Nachhinein sichtbar werden. Ganz langsam dreht sich während der zweieinhalbstündigen Inszenierung auch eine große Leinwand auf der Bühne (Johanns Schütz). Erst ist sie weiß, dann zeigt sie ihre Rückseite: schwarz. Und darauf: nichts. Karin Liebe

nächste Aufführung: Mi, 27. November, 20 Uhr, Schauspielhaus