berlin buch boom
: Antony Beevor wirft in seinem Buch über Berlins Fall im April 1945 einen detaillierten Blick auf die russische Militärmaschine

„Stalin ante portas“

Als im Februar 1942 deutsche Soldaten aus dem total zerstörten Stalingrad in die Kriegsgefangenschaft abmarschierten, riefen sowjetische Offiziere ihnen nach: „So wird Berlin einmal aussehen!“ Für den englischen Historiker und Romancier Antony Beevor war diese düstere Prophezeiung Anlass, sich nach seinem viel gelobten Buch über den Kampf um Stalingrad mit dem Fall der Reichshauptstadt im April 1945 zu beschäftigen.

Der Endkampf um Berlin war wie die Schlacht um Stalingrad eine rein deutsch-russische Angelegenheit. Für Stalin war es äußerst wichtig, vor den Westalliierten am Ziel zu sein. Der rote Generalissimus glaubte an die symbolische Wirkung der eroberten deutschen Kapitale. „Wer Berlin besitzt, besitzt Deutschland“: Da nicht nur Stalin, sondern auch Hitler in diesen Kategorien dachte, fand das blutige Finale des Zweiten Weltkrieges schließlich tatsächlich dort statt, wo heute das Herz der Berliner Republik schlägt. Viele Hauptstädter hofften zwar bis zur letzten Minute noch darauf, dass die Westalliierten den Russen zuvorkommen würden. Die Parole „Optimisten lernen Englisch, Pessimisten Russisch“ gab die Stimmung des Augenblicks sehr gut wieder. Doch als der Bombenhagel amerikanischer und englischer Flugzeuge von der russischen Artillerie abgelöst wurde, war die Sache klar: „Stalin ante portas“.

Manche Details, die Beevor über die fast zwei Wochen dauernden Kämpfe im Berliner Stadtgebiet liefert, sind schon aus anderen Darstellungen bekannt, zumindest was die deutsche Seite angeht. Doch anders als frühere Autoren konnte Beevor zahlreiche bis vor kurzem unzugängliche russische Archive besuchen. Das bisherige Bild wird somit durch Informationen „aus erster Hand“ ergänzt, wie sie etwa der KGB-Vorgänger NKWD und die Spionageabwehr Smersch zusammengetragen haben.

Und von diesem ungewohnt detaillierten Blick auf das Innenleben der russischen Militärmaschine geht der eigentliche Reiz der knapp fünfhundertseitigen Schlachtbeschreibung aus. Immer wieder geraten die massenhaften Vergewaltigungen in den Blick, die von sowjetischen Soldaten während des Vormarsches verübt wurden. Das russische Oberkommando wusste offenbar über die Vorgänge an der Front sehr genau Bescheid, blieb jedoch relativ untätig. Frauen, das macht Beevor deutlich, wurden in den letzten Monaten des totalen Krieges an der Ostfront schlicht als legitime Kriegsbeute betrachtet. Groteskerweise spielte dabei nicht einmal eine Rolle, ob es sich um die Gattinnen der abschätzig als „Fritzen“ bezeichneten Deutschen handelte oder um gerade befreite polnische oder sowjetische Zwangsarbeiterinnen.

Doch auch den aus deutscher Kriegsgefangenschaft geretteten Rotarmisten ging es oft an den Kragen: Das NKWD verdächtigte sie grundsätzlich des Verrats, viele von ihnen endeten nach dem Krieg im Gulag. Beevors Blick auf die Schlacht um Berlin macht ohne Umschweife deutlich, was im April 1945 in Berlin stattfand: der Endkampf zweier Diktaturen, die beide nicht zimperlich waren. Stand das Urteil der Historiker über die deutsche Seite schon seit langem fest, so zeigt Beevors Studie noch einmal deutlich, inwieweit sich die frühere Einschätzung der siegreichen Sowjetunion und ihrer glorreichen Roten Armee aufgrund der veränderten Faktenlage ins Negative gewendet hat.

Mit anderen Worten: Das Schwarz-Weiß-Prinzip ist von Schwarz-Schwarz abgelöst worden. Am Ende stellt Beevor lakonisch fest: „Im Unterschied zu Hitler praktizierte Stalin eher politisch als rassisch begründeten Genozid.“ Sätze wie dieser geben „Berlin 1945“, ohnehin ja Beschreibung einer der sinnlosesten Schlachten der Geschichte, eine ganz besonders finstere Note. ANSGAR WARNER

Antony Beevor: „Berlin 1945 – DasEnde.“ Bertelsmann Verlag, München2002. 512 S, 40,95 €