Thorsten geht wieder in die Schule

Sie heißen Schulverweigerer und sie kommen irgendwann nicht mehr zum Unterricht. Eine halbe Million schwänzt – aus Angst vor Lehrern und Mitschülern. Anstatt sie mit der Polizei einzufangen, gehen Schulen neue Wege: zwei Lehrer in einer Klasse

aus Berlin BARBARA SCHÄDER

Thorsten* sah irgendwann keinen Grund mehr, zur Schule zu gehen. „Ich hatte da keine Freunde, keine Lust“, sagt der 13-Jährige. Dann macht er ein lange Pause. „Meine Kumpels haben auch geschwänzt.“ Morgens taperten die Sechstklässler zum Arzt, ließen sich ein Attest ausstellen – und gingen dann nach Hause. Dreieinhalb Wochen dauerte es, bis es die Eltern bemerkten.

Bundesweit schwänzen eine halbe Million Schüler den Unterricht. Regelmäßig. Um das Problem in den Griff zu kriegen, laufen die unterschiedlichsten Experimente. SPD-Generalsekretär Olaf Scholz etwa schlug vor, Eltern notorischer Schwänzer mit einem Bußgeld zu bestrafen. In Bayern fahndet die Polizei nach Blaumachern: Beamte in Zivil greifen Jugendliche auf – und karren sie im Streifenwagen zur Schule.

„Dadurch werden die Probleme der Jugendlichen nicht gelöst“, kritisiert Gisela Weber vom Schwänzer-Projekt der Hertie-Stiftung. Hilfe muss gezielt und individuell erfolgen. Sinnvoll könne Zwang nur sein, wenn Schwänzer und Eltern partout jegliche Hilfe verweigerten.

Thorsten* braucht kein polizeiliches Geleit. Er hat noch kein einziges Mal gefehlt – seit er die Reintegrationsklasse der Jean-Piaget-Oberschule in Berlin besucht. Das Jugendamt hat ihn hierher geschickt, in eine Klasse mit nur sechs Schülern – alle so genannte Schulverweigerer.

Die 13- bis 14-Jährigen kommen – obwohl das Projekt auf Freiwilligkeit setzt. Wenn die Schüler es durchhalten, sechs Wochen lang regelmäßig zu erscheinen, haben sie die Probezeit geschafft und sind drin. „Hier wird man viel mehr betüttelt“, nennt Jan* grinsend das wichtigste Prinzip der Absentisten: Die Minigruppe wird intensiv betreut. Lehrerin Gerlinde Busch ist für sie da und ein Sozialarbeiter. (siehe Kasten)

Den Sozialpädagogen finanziert die Bürgerstiftung Berlin, die vor vier Jahren die Reintegrationsklasse gründete. Der Kerngedanke ist individuelles Lernen. Über ein halbes Jahr hinweg sollen die Schüler durch Einzelprogramme wieder für den Schulbesuch motiviert werden. Die Wirkung möchte auch Gerlinde Busch nicht mehr missen: „Anders als in Regelklassen kann ich eine intensive Beziehung zu den Schülern aufbauen“, sagt sie.

Der Tag beginnt mit einem ge- meinsamen Frühstück. Tanja* rückt damit heraus, dass sie bei einer Freundin war – sie kommt mit ihrer Mutter nicht klar. Frau Busch und der Sozialarbeiter erfahren bei Cornflakes und Brötchen von den Sorgen ihrer Schüler, die alle eine Akte beim Jugendamt haben.

Mehr Freiheit – und viel mehr Verantwortung

So unterschiedlich ihre Probleme sind – der eine ist hyperaktiv, die andere spricht kein Wort –, so ist auch der Leistungsstand der Kids. Deswegen erhält jeder einen speziell auf ihn zugeschnittenen Wochenplan – eine Methode, die inzwischen viele normale Schulen übernommen haben. Das fordert die Schüler. Sie können zwar selbst entscheiden, wann Mathe und wann Deutsch auf dem Stundenplan steht – aber sie tragen dafür auch die Verantwortung. Sie lernen, ihre Zeit einzuteilen und den Ehrgeiz zu entwickeln, etwas zu Ende zu bringen, ohne ständig angetrieben zu werden.

Wer sein selbst gestelltes Pensum nicht bearbeitet, sieht sich im wöchentlichen Einzelgespräch mit unbequemen Fragen konfrontiert. „Hattest du nicht genügend Zeit oder keine Lust?“, fragt die Lehrerin Meike*, die nicht alle Mathe-Aufgaben gelöst hat. „Mittwoch hättest du eigentlich noch 'n bisschen mehr schaffen können.“

Mit dem Tadel kann die 13-Jährige leben. „Ich find's ganz gut, dass wir hier viel Aufmerksamkeit bekommen“, sagt sie, als die Lehrerin draußen ist. In ihrer alten Klasse mobbten sie die Mitschüler – kein Lehrer scherte sich drum. Bis Meike nicht mehr hinging. Ein halbes Jahr lang.

Viele Kinder, die in die Reintegrationsklasse kommen, haben Schulangst – Angst vor Mitschülern, Angst vor den Lehrern, Angst vor Misserfolgen. Deshalb sieht Busch es als ihre wichtigste Aufgabe an, bei den Schülern Vertrauen aufzubauen – und Selbstvertrauen: „Ich zeige ihnen zuerst, was sie können – nicht, was sie nicht können.“ Ziel ist, dass die Kinder nach einem halben Jahr den Mut und die Ausdauer haben, um wieder in eine normale Klasse zurückzukehren.

Das klappt nicht immer, wie die Bilanz der ersten vier Projektjahre zeigt: Von 38 Schülern schafften 13 den Sprung in die nächste Klasse, zwei mussten wiederholen. Sechs kamen auf die Sonderschule, andere wegen familiärer Probleme in ein Heim.

Eine Kombination aus Praxis und Nachmittagsprogramm soll jetzt auch ältere Schwänzer an die Schule zurücklocken. Elf 15- bis 18-Jährige haben im Herbst das Projekt „Coole Schule“ begonnen. Erster Erfolg: Inzwischen kommen fast alle täglich.

Auch dieses Programm setzt erst ein, wenn die Schulkarrieren schon schief gelaufen sind. Präventiv wird eben niemand betüttelt. Schade eigentlich, findet Gerlinde Busch: „Wenn sich die Bedingungen an den Schulen ändern würden, bräuchten wir solche Projekte nicht.“

* Die Namen aller Schüler wurden geändert