Zum Lernen ins Fußballstadion

Europas Projekte zeigen: Nicht Disziplin, sondern Spaß kann Schulaussteiger zu zufriedenen Schülern machen

„Wir müssen suchen, was die Jugendlichen im Inneren interessiert, was sie können“

BERLIN taz ■ Früher machte der englische Zweitligist FC Watford Schlagzeilen, weil ihn der Popsänger Elton John durch verbissenes Sponsoring vor dem Abstieg bewahren wollte. Heute ist der Club nahe Hertford im Süden Englands nur noch mit Aufstieg befasst. Er ist, so rühmt ihn die Bezirksregierung, „oft der entscheidende Anstoß für Jugendliche, sich fürs Lernen zu interessieren und einen positiven Blick auf die eigene Zukunft zu gewinnen“.

11.000 Jugendliche hat „Watford Learning“ mit dem FC in zwei Jahren zum Lernen animiert. Das Motto heißt „Enjoy!“ oder auf Deutsch: „Genießt das Lernen“. Das „Hertfordshire Cultural Partnership“ , zu dem Watford Learning zählt, versucht allen Ernstes, Schüler mit Spaß in die Schulen zu locken. Und die drop outs, die jungen Schulverweigerer, komme tatsächlich.

Denn eine Autostunde südlich von London können sich aus der Spur geratene Teenies eine Eintrittskarte für ein Spiel des Fußballclubs erringen – wenn sie sich an einem der Bildungsprojekte beteiligen. In den Katakomben des Stadions werden Computerkurse abgehalten. Das Projekt „Kickstart“ bietet lernentfremdeten Kids die Chance, sich zu motivieren. „Die holen schulabstinente Jungs mit Fußball wieder ran an Lerngruppen“, sagt Annie Hawkins, „und versuchen, sie in glückliche Lerner zu verwandeln.“

Die emphatische Frau Hawkins ist Kulturbeauftragte des Hertfordshire Countys. Der Kulturbegriff, für den sie steht, reicht von Fußball über die florierende Filmindustrie Hertfords bis zur Förderung von Bibliotheken als selbstverständlichen Aufenthaltsorten – auch für Teenies, die darauf eigentlich keinen Bock haben. „Spaß muss sein“, sagt sie – sonst geht nichts.

Ganz anders hierzulande. Ein Jahr nach den wenig schmeichelhaften Ergebnissen der Pisa-Studie sind langsam, aber sicher wieder die Sekundärtugenden im Kommen. Kirche, Konservative und Kultusminister dominieren mit Disziplin und Leistung die Debatte um die Lehren aus Pisa. Europaweit ist man indes beim Umgang mit den schwierigsten Schülern, die man sich denken kann, von einer anderen Idee überzeugt. Ob in Hertford, im italienischen Palermo, im niederländischen Den Helder, in Anderlecht in Belgien oder in Friedrichshain-Kreuzberg – im Umgang mit Schulaussteigern heißt das Zaubermittel: Freude am Lernen.

„Das A und O ist, dass sie den Schülern ein für sie passendes Bildungsangebot geben“, berichtet etwa Lynne Coulthard. „Die normalen Schulformen sind oft nicht flexibel genug, um für sozial benachteiligte Jugendliche attraktiv zu sein.“ Die Managerin des Schulprojekts „Connexions“ in Hertford macht das starre nationale Curriculum in England dafür verantwortlich. Jeder Brite unter 16 muss es absolvieren. Für die 13- bis 19-jährigen Schulverweigerer in Hertfordshire ist das Schema F – es schreckt sie ab. „Es gibt so viele Barrieren für verlorene Jugendliche“, sagt Coulthard, „dabei müssen wir ihre Bedürfnisse erforschen und ihnen dann helfen, ihre Erwartungen hochzuschrauben.“

Wie macht man das? Etwa indem man, wie der englische Premier Tony Blair es befürwortet, Jugendliche mit dem Streifenwagen in die Schule bringt? „Tony Blair hat nichts verstanden – nichts von den Problemen Heranwachsender und nichts von Gewalt in Familien“, sagt Mariella Diana dazu. Die Erziehungs-Psychologin arbeitet in Sizilien, in Palermo, mit jugendlichen Aussteigern. Für die elf- bis 14-jährigen Kinder gehört Gewalt zum Alltag wie Pasta zum Mittag. Sie erleben sie zu Hause, wenn ihre Väter sie schlagen. Und sie geben sie zurück, wenn die Mafia das knappe Viertel derer, das von Schule und Lernen in Palermos Sekundarschulen die Nase voll hat, für die organisierte Kriminalität anwirbt.

„Wenn Gewalt verhindert hat, dass diese Jungen und Mädchen gut aufwachsen, dann müssen wir bewusst ein anderes Modell wählen“, erzählt die Frau vom dem palermitanischen „Observatorium zur Verhinderung von Schulabbruch“. Die gemeinnützige Organisation bringt lokale Schulen mit Behörden, Polizei und Amtsgericht zusammen, um Jugendlichen jene Fähigkeiten zu vermitteln, die sie am Arbeitsmarkt brauchen. Das sizilianische Schulprojekt, berichtet sein Manager Maurizio Gentile, hat in drei Jahren große Erfolge erzielt. Die Aussteigerquote an Grundschulen sank seit 1999 von 6 auf 1 Prozent, in den Sekundarschulen der Problembezirke sogar von 23 auf 9 Prozent.

Die Rezepte für diese Erfolge ähneln sich in Europa, wie eine Konferenz europäischer Schulverweigererprojekte am Montag in Berlin zeigte: Schulverweigerer lernen in kleinen Gruppen, sechs bis acht Schüler, mehr sind es selten. Sie machen viele praktische Arbeiten. Und sie brauchen einen besonderen psychologischen Zugang.

„Diese omnipotenten, gewalttätigen Jugendlichen haben das Gefühl, wertlos zu sein“, erzählt die 51-jährige Psychologin Diana, „wir müssen ihre Ängste und Gefühle verstehen.“ Wenn einer der kleinen Mafiosi zutritt, dann wird er nicht unbedingt bestraft. Sondern gefragt, was ihn so wütend machte. Manchmal entsteht daraus ein Gespräch, bei dem auch die anderen aus der kleinen Gruppe wichtig werden: Sie berichten, was der Auslöser ihrer Wut ist – und Marielle Diana und ihre Jugendlichen beginnen zu verstehen.

Ähnliches berichtet Martin van Otterloo aus seinem Projekt in Den Helder, Holland. Wenn einer seiner Schützlinge zu spät kommt, dann fragt ihn der Sozialarbeiter nicht gleich, wo er gerade herkommt. „ ‚Ich bin froh, dich zu sehen‘, muss der erste Satz heißen“, sagt Otterloo. Er muss zuerst eine Beziehung zu dem Jugendlichen herstellen – wo der Jugendliche war, wird er später herausbekommen. „Wenn man denen mit Disziplin kommt, passiert gar nichts“, erzählt der 47-Jährige. „Das haben sie in der Schule oft genug erlebt. Es hat nichts mit ihnen zu tun, es kommt von außen. Wir müssen aber nach dem suchen, was diese Jugendlichen im Inneren interessiert, was sie können.“

Die harte Gangart US-amerikanischer Projekte, die mit kriminellen Schulverweigerern arbeiten, betrachtet van Otterloo mit Skepsis. Den Jugendlichen wird dort eine eiserne Zeit- und Übungsstruktur eingebläut – gerade so, als seien sie in der Armee. „Solange die im Projekt sind, mag das funktionieren. Aber was ist mit all der fremden antrainierten Disziplin, wenn sie wieder draußen sind?“, fragt Otterloo.

Auch für Birgit Daiber, deren „Gesellschaft für berufliche Maßnahmen“ das Europatreffen der Aussteigerprojekte veranstaltete, ist Disziplin ein Thema. „Es geht in unseren Initiativen darum, junge Leute wieder für Bildung zu begeistern. Das geht nicht mit der Polizei oder mit Disziplin – sondern nur mit Selbstdisziplin.“ CIF