Abrüstung der Vorstellungskraft

Damit man nach einem Lidschlag nicht schon weiß, was man denken, tun und fühlen soll: „11’09’’01“, ein Kompilationsfilm von elf Regisseuren zum 11. September, lässt Bilder und Perspektiven streiten, statt auf die Sicherheit von Ikonen zu setzen

Die Maßstäbe fehlen: Wie stellt man sich mehrere tausendTote vor?

von CRISTINA NORD

„Wenn dir die erste Kugel um die Ohren fliegt, kümmert dich Politik einen Dreck“, heißt es in Ridley Scotts Kriegsfilm „Black Hawk Down“. Wo unmittelbare Bedrohung herrscht, zählt nicht länger, dass man Konflikten auf vielgestaltige Weise begegnen kann: indem man nach Ursachen forscht und sich darüber verständigt, indem man verhandelt, die eigene Position mit der der anderen abgleicht, widerstreitende Standpunkte anerkennt und so zumindest partiell zur Deckung bringt. Wo eine Kugel auf die eigene Existenz zielt, ist Eindeutigkeit gefragt: Hier wird nichts mehr zur Debatte gestellt, hier wird zurückgeschossen.

Seit dem 11. September 2001 lässt sich Aufrüstung auf vielen Feldern beobachten: zuallererst, da in internationalen Konflikten die militärische die politische Logik zu verdrängen sich anschickt. Dann auf dem Feld der Rhetorik, wo Freund und Feind, Gut und Böse zu unhintergehbaren Kategorien werden. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ – so endet jedes Gespräch. Was einmal Diskurs war und damit potenziell uneindeutig, streitbar – ein klar konturiertes, Gemeinschaft konstituierendes „Wir“ beispielsweise –, gilt wieder als feste Größe. Damit einher geht, dass bestimmte Bilder ihren anfechtbaren Status verlieren und zur Ikone werden, die Bilder der in das World Trade Center einschlagenden Flugzeuge beispielsweise oder die Aufnahmen aus Afghanistan, die im Käfig der Burka verborgene Frauengestalten zeigen. „Bei der Ikone reicht ein flüchtiger Blick“, sagt der israelische Filmemacher Eyal Sivan, „wie der auf ein Straßenschild“. Nach einem Lidschlag weiß man, was mit der visuellen Information gemeint ist, und man weiß auch, was man jetzt fühlen und tun soll.

Es ist vor diesem Hintergrund erfreulich, wenn elf Filmemacher auf Initiative des französischen Produzenten Alain Brigand elf Kurzfilme drehen, die sich mit dem 11. September 2001 befassen. Allein dadurch, dass „11’09’’01“ elf Perspektiven miteinander konfrontiert, wird das Eindeutige zurückgeführt ins Uneindeutige, wird die militärisch-monolithische Bildlogik zugunsten der politischen aufgegeben. Das umso mehr, als der Film selbst zeigt, wie wenig die Dinge für sich stehen, wie sehr sie abhängen von ihrer Umgebung, von ihrem Gegenüber. Als „11’09’’01“ kurz vor dem ersten Jahrestag der Attentate während der Filmfestspiele in Venedig gezeigt wurde, schien der Glaube ans Kino plötzlich wieder hergestellt: Kritiker und Publikum, ernüchtert angesichts eines – von wenigen Ausnahmen abgesehen – traurigen offiziellen Programms, waren sich einig, dass der Kompilationsfilm ein großes Stück Kino sei. Aus der Distanz zeigt sich, dass die Begeisterung nur dann Bestand hat, wenn man das Zusammenspiel der einzelnen Episoden fokussiert, den Streit, der dem Film durch seine elf Perspektiven inhärent ist. Sobald man die einzelnen Episoden von „11'09’’01“ für sich genommen betrachtet, wird es schwieriger.

Denn wirklich geglückt ist davon keine. Wie sollte das auch gehen? Im festen Format von elf Minuten, neun Sekunden und einem Bild dem gerecht werden, was am 11. September 2001 in New York geschah, ist eine Aufgabenstellung, die das Scheitern vorwegnimmt. Kein Wunder also, wenn Youssef Chahine der Selbstgerechtigkeit erliegt, da er sich selbst und, als Produkt seiner Vorstellungskraft, einen US-amerikanischen GI und einen palästinensischen Selbstmordattentäter in Szene setzt. Kein Wunder, wenn Mira Nair zum Zuckerguss des großen Gefühlskinos drängt, da sie von einem zu Unrecht der terroristischen Tat verdächtigten jungen Mann und von dessen verzweifelter Mutter erzählt. Kein Wunder, wenn Amos Gitai mit seiner Medienschelte an der Oberfläche bleibt, da er im Hin und Her des Reißschwenks seinen Gegenstand verliert. Und kein Wunder auch, wenn sich Claude Lelouch im Ton vergreift, da er die Attentate zur Kulisse für ein Beziehungsdrama nutzt.

Interessanter ist da schon Samira Makhmalbafs Beitrag. Die junge iranische Regisseurin rückt die Relativiät von Lebensumständen ins Bild, indem sie zeigt, wie die Attentate auf das World Trade Center auf der anderen Seite des Globus, in einem iranischen Dorf, nachhallen. Es ist ein Flüchtlingsdorf, staubig, rau, in den Farben gefilmt, die die Ästhetik der Armut verlangt. Menschen aus Afghanistan leben hier, nachdem sie vor den Taliban geflohen sind. Sie fürchten, dass eine Atombombe auf sie niedergeht, dass sie ohne ihr Zutun in einen Krieg verwickelt werden, dem sie durch ihre Flucht entkommen schienen. Makhmalbaf schickt eine junge Lehrerin in den Ort. Die versucht den Kindern, die eben noch Lehmziegel formten, zu erklären, was am 11. September 2001 in New York geschehen ist. Aber es fehlen die Parameter. Was ist ein Mobiltelefon, was ist ein Hochhaus? Wie stellt man sich mehrere tausend Tote vor? Die Kinder wissen es nicht, und damit schreibt Makhmalbaf ihrem Film das dem Sujet eigene Vermittlungsproblem ein. In dem Maße, in dem ein elfminütiger Kurzfilm an der Darstellung der Attentate scheitern muss, scheitert Makhmalbafs Hauptfigur – wenn auch nicht auf ganzer Linie: Am Ende blicken die Kinder auf einen Schornstein, derweil sie andächtig schweigen.

Bei Makhmalbaf ist das Gegenüber, das das monolithische westliche „Wir“ mit einer eigenen Perspektive herausfordert, in der Figur des unschuldigen Kindes aufgehoben. Ken Loach wagt sich weiter vor: Bei ihm ist es ein Chilene im Londoner Exil, der die Gedenkrhetorik und die Ikonografie des 11. September provoziert (siehe Interview auf Seite 16). Der Schauspieler Vladimir Vega, mit dem Loach in „Ladybird, Ladybird“ zusammenarbeitete, gibt Pablo, den Mann, der den 11. September 1973 erinnert: Das chilenische Militär putschte mit Unterstützung der CIA gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Der Grundstein für eine über 16 Jahre währende Diktatur war gelegt. In einer aggressiven Montage kombiniert Loach eine Rede George W. Bushs mit Archivbildern, die die Bombardierung des Moneda-Palastes in Santiago de Chile zeigen: Ein Flugzeug kreist über dem Regierungssitz, als hätte es sich um 28 Jahre in der Zeit zurückbewegt. Befremdlich ist daran weniger die Polemik als vielmehr der nostalgische Blick auf den sozialistischen Versuch, den Chile zwischen 1970 und 1973 unternahm: Wo immer das Volk die Produktionsmittel in seinen Besitz bringt, schlägt das Herz der Linken höher. In Vergessenheit gerät dabei, das „pueblo“ („Volk“), der in Lateinamerika so gern und so oft angeführte Begriff, nicht minder fragwürdig ist als das neuerdings rekonstruierte westliche „Wir“. Zudem wird man den Eindruck nicht los, dass Loachs Beitrag die Empathie, die Pablo alias Vladimir Vega den Opfern des 11. September 2001 entgegenbringt, nicht recht teilen will.

Das Format ist festgelegt: elf Minuten, neun Sekunden, ein Bild

Trotzdem ist mit Loachs und Makhmalbafs Filmen etwas Entscheidendes berührt: Zwar mag es so scheinen, als hätten die Attentate des 11. September Wahrnehmungen und Prioritäten vereinheitlicht. Doch es gibt ein Gegenüber, und dieses Gegenüber bringt eine differente Sicht ins Spiel. Um der Unversöhnlichkeit des Fundamentalismus vorzubeugen, muss man Notiz von diesen differenten Sichten nehmen. Hollywood mag auf den 11. September mit Kriegs- und Actionbildern, mit wiederkehrenden Gut-Böse-Schemata reagieren. Noch ein seinem Genre gegenüber ironischer Agentenfilm wie „Triple X“ schöpft tief aus dem Bildarsenal von Held und Schurke, von Zivilisation und Barbarei. Die Herausforderung besteht darin, dieser Panzerung, dieser unseligen Aufrüstung des Imaginären eine Nase zu drehen. Die elf Episoden von „11'09’’01“ tun das, indem sie die Oppositionspaare außer Kraft setzen. Das ist das Verdienst der Kompilation.

Es lohnt sich, an dieser Stelle den scheinbar privatesten der elf Beiträge zu betrachten: Sean Penns recht maniriert wirkende Episode. Penn besetzt die Rolle eines Witwers mit dem alt gewordenen Ernest Borgnine. Dessen Gesicht und Körper geben sich der Kamera in extremen Nahaufnahmen hin, ein Haufen Affektbilder entsteht vor dem Hintergrund einer lichtlosen Wohnung. Den Tod seiner Frau hat dieser alte Mann nicht zur Kenntnis genommen: Er adressiert eine Gestalt, die in seinem Kopf existiert, er kleidet sie jeden Morgen an, drückt sie, liebkost sie, richtet seine Rede an sie.

Eines Tages aber dringt Licht in die Wohnung. Der Schatten eines Turms – es wird der erste Turm der Twin Towers sein – wandert an der Außenwand des Hauses nach unten. Auf der Fensterbank blühen verwelkte Blumen auf. Borgnine vollführt einen jauchzenden, kindischen Tanz, bis er im Licht erkennt, dass Produkt seiner Imagination ist, was er bis eben für seine Frau hielt. Mit dem Licht, das Penn pathetisch als Licht der Erkenntnis verstanden wissen will, wird der Witwer erst wirklich zum Witwer. Sein Gegenüber ist fort. Die Kamera ist jetzt noch einmal bei ihm, er sitzt auf dem Bett, wiegt das Kleid, in dem er eben noch seine Frau wusste. Dann entfernt sich die Kamera durch das Fenster, auf der Häuserwand geht der Schatten des zweiten Turms nieder. Was dem alten Mann vielleicht nicht mehr gelingen wird, könnte dieser Kamera glücken: Statt eines Phantoms, statt einer Projektion könnte sie dort draußen, im Licht, ein echtes Gegenüber finden.

„11'09’’01“. Regie: Samira Makhmalbaf, Claude Lelouch, Youssef Chahine, Danis Tanovic, Idrissa Ouedraogo, Ken Loach, Alejandro González Iñárritu, Amos Gitai, Mira Nair, Sean Penn, Shohei Imamura. Frankreich 2002, 135 Minuten