„Wir bleiben hier!“ ist megaout

Eine Studie des sächsischen Wirtschaftsministeriums belegt: Die Abwanderung aus Sachsen ist so stark wie kurz nach der Wende. Die Ex-DDR droht nun wirklich „Der Doofe Rest“ zu werden. Was tun? Sachsens Regierung bildet einen Expertenkreis

aus Dresden MICHAEL BARTSCH

„Tiere zieht es zum Wasserloch. Wir Menschen sind nicht anders, es zieht uns dahin, wo es Arbeit gibt.“ So philosophiert der achtzehnjährige Jan Zschornack, der eine Ausbildung an einer schwäbischen Autobahnraststätte bei Neckarburg absolviert. Als bodenständiger Sorbe leidet er besonders unter der Trennung von der Heimat. Jan ist einer von rund 7.000 ehemaligen Sachsen, die das Statistische Landesamt im Frühjahr 2002 angeschrieben hat. 2.328 antworteten und lieferten das Material für eine repräsentative Abwanderungsstudie, deren Ergebnisse erst gestern offiziell vorgestellt wurden.

Auftraggeber war die so genannte Stiftung Innovation und Arbeit (IAO), also indirekt das sächsische Wirtschaftsministerium. Michael Wagner von der IAO verneinte zwar, dass die spätestens seit September vorliegenden Ergebnisse zunächst unter Verschluss gehalten werden sollten. Auffällig bleibt dennoch, dass Nachfragende wiederholt vertröstet worden waren. Denn die Ergebnisse sind für die Zukunftsaussichten Sachsens und Ostdeutschlands deprimierend.

Nach einem fast ausgeglichenen Wanderungssaldo Mitte der Neunzigerjahre steigt die Zahl der Wegzüge seit 1998 deutlich, obgleich mit dem Bevölkerungsschwund in absoluten Zahlen auch die Gruppe der typisch Mobilen abnimmt. Zurückzuführen ist dies eindeutig auf eine größere Bereitschaft zum Abwandern ins Ungewisse, die fast die Dimensionen des Einheitsjahres 1990 erreicht.

Sachsen verliert jährlich etwa 1 Prozent seiner Bevölkerung. 62.300 Bürger zogen im Vorjahr vor allem nach Bayern und Baden-Württemberg. Eine Prognose des Statistischen Landesamtes besagt sogar, dass bei gleich bleibendem Arbeitsplatzangebot ab 2010 in Sachsen Arbeitskräfte fehlen könnten.

Der Sorbe Jan ist in einigen Hinsichten repräsentativ für den typischen Abwanderer. Er ist jung und hat wie die Hälfte aller Weggehenden die 30 noch nicht erreicht. Das hat schon jetzt messbare Auswirkungen auf die potenzielle Elterngeneration. Erstmals seit 1994 ist die Geburtenzahl im Vorjahr wieder gesunken, und zwar gleich um 3,6 Prozent gegenüber 2000.

Sachsen verlässt man überwiegend allein stehend, aber ein Viertel dieser jungen Singles geht bald nach dem Umzug eine feste Bindung ein. Im Alter von Jan Zschornack allerdings überwiegt der Anteil der Frauen unter den Abwanderern, ebenso in der Altersgruppe über 55 Jahre.

Die Fortgezogenen sind, anders als Jan, oft überdurchschnittlich gebildet. 37 Prozent verfügen über die Hochschulreife, doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt. Arbeitslose sind nur durchschnittlich stark unter den Abwanderern vertreten. Dennoch bleibt das wichtigste Motiv für mehr als die Hälfte die Arbeitssuche, – bessere Ausbildungs- oder Verdienstmöglichkeiten. Etwas mehr als die Hälfte der in den Westen gezogenen Arbeitslosen hat dort tatsächlich auch Arbeit gefunden. Nur für ältere Bürger jenseits der 50 dominieren familiäre oder persönliche Gründe, Sachsen dauerhaft zu verlassen.

Politische Schlussfolgerungen aus der Studie sind noch nicht gezogen worden. Die auftraggebende IAO wollte nicht einmal Empfehlungen geben, etwa eine in Mecklenburg praktizierte Rückkehreragentur oder die umstrittene Mobilitätshilfe der Arbeitsämter betreffend. Nach Kontakten mit den Sozialpartnern, den Arbeitsämtern und Handelskammern soll eine Expertenkonferenz einberufen werden.

Je länger die Abgewanderten im Westen leben, je älter und gebildeter sie sind und je besser sie verdienen, desto mehr sinkt ihre Rückkehrbereitschaft. Theoretisch können sich das 62 Prozent zwar noch vorstellen, wenn auch nur unter dem Vorbehalt eines vergleichbar attraktiven Arbeitsplatzes. Aber sogar Jan Zschornacks Urteile über seine geliebte sorbische Heimat fallen immer vernichtender aus. „Da isch nix“, sagt er, und sein Schwäbeln verrät, dass er doch schon ziemlich assimiliert ist in Neckarburg.