T-Shirts falten für die Kunst

Fast aus dem Sattel gekippt: Im Podewil freut man sich, trotz Kürzungen weiter Tanz, Video und Performance zeigen zu können. Künstler helfen kreativ sparen. „Blue Rodeo“ stellt eine Auswahl der hauseigenen Produktionen vor

Einsam steht ein großer lederner Bock im Foyer des Podewil. Darauf ein Rodeosattel. Niemand traut sich, sich darauf zu setzen. „Blue Rodeo“ heißt das Motto einer zweiwöchigen Werkschau des Podewil. Symbol für ein letztes Aufbäumen, bevor die Senatskürzungen einen der größten Träger der freien Berliner Kunstszene zu Boden werfen? „Die Kürzungen sind schlimm, aber verkraftbar“, sagt Maria König, PR-Frau des Podewil, zuversichtlich. „Wir können einsparen, ohne am Programm zu kürzen oder Künstler zu entlassen.“

Vor einem halben Jahr klang das noch anders: Nachdem Kultursenator Thomas Flierl im neuen Haushalt 715.000 Euro Einsparungen ankündigte, schien das Podewil von der Schließung bedroht. Erst nach lautstarkem Protest korrigierte Flierl die Kürzung. Ein Aufatmen ging durch den ehrwürdigen Barockbau in der Klosterstraße.

Das aktuelle „Blue Rodeo“- Programm setzt die haustypische Durchmischung aller Spielarten der zeitgenössischen Kunst fort: Konzerte, Performances, Lesungen und Installationen mit fließenden Übergängen. Die norwegische Tanzkompanie „synk“ etwa führt eine Tanz-Video-Performance auf: Eine in Springerstiefel und ein weißes Minikleid gewandete Tänzerin tanzt ein Solo, während zwei junge Männer ihre Bewegungen aufnehmen und in ihren Laptops sampeln. Am Ende nimmt die Tänzerin die Projektion ihrer verfremdeten Körpersprache wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Solos. Geräusche werden ebenfalls gesampelt und über Surround- Lautsprecher in Umlauf gebracht. Ein klug konzipiertes, doch etwas kopflastiges Vergnügen.

Im Foyer bietet sich Videokunst mit einfacherem Zugang. Der kanadische Videokünstler Benny Nemerofsky Ramsay beschäftigt sich in seiner Videoinstallation „Live To Tell“ mit Intimität und Überwachung. Zart haucht ein Männerchor eine Ballade von Madonna. Der Künstler, durch den Blickwinkel aus 12 Videokameras multipliziert, singt Madonnas gleichnamige Ballade seinem stummen, aber alles sehenden Kamerapublikum vor. Die synchron ausgeführten Gesten und die Geschichte von einem lang gehüteten Herzensgeheimnis wirken vor dem kalten Auge der Kamera absurd und verloren. Zusammen mit zwei anderen Videoinstallationen aus Frankreich und den USA kann Ramsays Werk während der Dauer von „Blue Rodeo“ kostenlos besichtigt werden.

Neben den beliebten Kurztheaterstücken der Artist-in-Residence Lindy Annis ist ein weiterer Höhepunkt Jochen Rollers Tanzperformance „No Money No Love“. Das bei „Blue Rodeo“ uraufgeführte Stück ist Auftakt einer Serie, die sich mit der Entstehung von Choreografie beschäftigt. Mit viel Witz und Selbstironie thematisiert Roller seine ökonomischen Nöte: Um Geld für seine Performances zu verdienen, arbeitet er unter anderem als Verkäufer, Call-Center-Angestellter und Briefzukleber. In „No Money No Love“ entwickelt aus den stupiden Bewegungsabläufen des Arbeitsalltags kleine Choreografien, die er mit Zitaten aus Bewerbungshandbüchern und viel Musik würzt. Jochen Roller hätte das von ihm konzipierte und choreografierte Stück auch komplett selbst getanzt, hätte er sich nicht bei den Proben einen Fuß gebrochen. Eigentlich eine Katastrophe, doch Roller weiß auch diese Widrigkeit mit Humor zu nehmen. Das Gipsbein lässig in die Krücke eingehängt, steht er auf der Bühne und lässt sein Arbeits- und Künstlerleben von einer Kollegin tanzen. Dabei rechnet er dem Publikum vor, wie viele Stunden T-Shirt-Falten jede Minute seiner Performance wert ist. Allein wegen dieser großartigen Produktion, die noch bis zum 29. 11. zu sehen ist, lohnt es sich, „Blue Rodeo“ zu besuchen und zu feiern, dass das Podewil immer noch so fest im Sattel sitzt. NINA APIN

„Blue Rodeo“, Podewil kompakt, 20.–30. 11. 2002, Jochen Roller: „No Money No Love“, Mi. 27. 11.– Fr. 29. 11., 20 Uhr