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Überleben in Beijing

„Es gibt den Platz des Himmlischen Friedens, die Sonne geht auch hier auf und man kann Geld verdienen“: „Chen Mo und Meiting“, das Debüt des jungen chinesischen Regisseurs Liu Hao

von THOMAS WINKLER

Ein junger Mann ist auf der Flucht vor der Polizei. Er rennt in eine junge Frau, stößt sie beinahe um, sie tauschen Blicke, er drückt ihr eine Kiste voller Blumen in die Arme und flüchtet weiter. So beginnen Liebesgeschichten. So beginnt auch die Liebe zwischen Chen Mo und Meiting, die sich brauchen, ohne sich wirklich zu verstehen, die sich erst verlieren müssen, um zu erfahren, was sie wirklich verloren haben.

Aber „Chen Mo und Meiting“, der Debütfilm des jungen chinesischen Regisseurs Liu Hao, ist weit mehr als nur ein Liebesdrama. Die Geschichte von Meiting und Chen Mo ist vor allem auch eine Bestandsaufnahme des grauen Alltags in der Volksrepublik. Dazu verfolgt der ehemalige Zeitungsreporter Liu zwei Prototypen des sich modernisierenden Chinas: Chen Mo ist einer von Millionen Landflüchtlingen, die von einer Wirtschaft, die sich dem kapitalistischen Wettbewerb öffnet, auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte getrieben werden. Meiting wiederum ist die Tochter von Intellektuellen, die während der Kulturrevolution aufs Land geschickt wurden. Als Wiedergutmachung wird den Kindern nun erlaubt, in die Städte zurückzukehren.

Dort aber warten nur Ausweglosigkeit und Tristesse. „Warum bist du nach Beijing gekommen?“, fragt Meiting. „Beijing ist gut“, antwortet Chen Mo, „es gibt den Platz des Himmlischen Friedens, die Sonne geht auch hier auf, und man kann Geld verdienen.“ Manchmal blinzeln sie verträumt in die Sonne, die durch den Smogdunst dringt, doch Touristenattraktionen bekommen die beiden nicht zu sehen. Ihr Beijing ist ein gesichtsloser Moloch, der in allen Grauschattierungen schillert. Lius Protagonisten schlagen sich als illegale Straßenverkäufer durch oder warten auf Kundschaft in Friseursalons, in denen offensichtlich mehr angeboten wird als nur ein Haarschnitt. Sie leben in Bretterverschlägen mit astronomischen Mieten und werden von ihren Chefs nach Lust und Laune gefeuert. Das wenige Geld, das sie sparen können, schicken sie nach Hause, um die Augenoperation des Bruders zu finanzieren. Das Geld wird niemals ankommen.

„Chen Mo und Meiting“ gehört zu einer ganzen Reihe von Filmen, die quasi ohne Mittel und unter abenteuerlichen Umständen entstehen. Durchweg zeichnen sie ein ernüchterndes Bild Chinas. Dank der wirtschaftlichen Öffnung der Volksrepublik finden sie nun leichter den Weg ins Ausland, wo sie auf Festivals für Furore sorgen, während sie in ihrem Entstehungsland meist nicht einmal in die Kinos kommen. Selbst unter diesen Filmen gehört „Chen Mo und Meiting“ zu den düstersten: Hier ist das Glück nur mehr eine Chimäre, die die von den realen Lebensumständen des Sozialismus deformierten Menschen davon abhält, sich endgültig selbst aufzugeben. So entwickelt sich die Beziehung zwischen Meiting und Chen Mo weniger als Liebschaft und eher als Notwehrgemeinschaft gegen die Unbill da draußen. Konsequenterweise schlägt Meiting denn auch vor, man möge im täglichen Wechsel die Rollen von Mutter und Vater einnehmen, so dass der andere wieder zum Kind werden darf.

Allzu viele solcher poetischer Momente sind den beiden allerdings nicht vergönnt, bevor sie der den Film prägende, fast schon erschreckende Realismus wieder einholt. Mit den Mitteln des Dogma-Films, gedreht an Originalschauplätzen mit Direktton und ohne Kunstlicht, findet Liu für den ebenso heroischen wie hoffnungslosen Alltagskampf seiner Figuren Bilder, die mitunter dokumentarischer wirken als ein Beitrag im „Auslandsjournal“, vor allem aber jederzeit wahrhaftiger.

„Chen Mo und Meiting“. Regie: Liu Hao. Mit Wang Lingbo, Du Huanan u. a., China/BRD 2002, 78 Min.

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