„Wir könnten glücklich sein“

Morgen ist Welt-AIDS-Tag: Dass die Immunschwäche immer noch keine ganz normale Krankheit ist, erzählen zwei Hamburger Familien, die mit dem Virus ein Leben voller Lügen und halben Wahrheiten führen. Dabei waren sie am Anfang ganz offen

„Ich würde mein Blut mit dem von Lars tauschen, er ist doch noch so jung“

von SANDRA WILSDORF

Das Leben ist ein Wettlauf. Wahrheit rennt gegen Geheimnis. Irgendwann wird die Wahrheit gewinnen, aber offen ist, wer ihr über die Ziellinie hilft. Und was dann passiert. Simone und Bernd Schmitt* wollen ihrem Sohn unbedingt selbst sagen, was sie seit Jahren wissen, und was er vielleicht ahnt. Dass er HIV-positiv ist. Sie wollen nicht, dass es ihm die Lehrer, die wenigen Eingeweihten oder die Ärzte erzählen. Lars ist jetzt 13.

„Eine Weile haben wir gedacht, er schmeißt sich vor die U-Bahn, wenn er es erfährt“, sagt seine Mutter. Inzwischen glauben die Eltern, er könnte mit dem Wissen leben. Und sie warten darauf, dass er endlich fragt. Danach, warum zu seinem Leben Medikamente ebenso gehören wie die monatlichen Kontrollbesuche im Krankenhaus. Warum seine Mutter ihm viel häufiger als den kleinen Geschwistern sagt, er solle sich warm anziehen. Lars weiß nur, sein Blut und sein Sperma sind krank. Und mehr will er momentan nicht wissen, „wir würden es ihm jetzt gerne sagen, aber ich habe das Gefühl, er blockt“, sagt Simone Schmitt.

Vielleicht, weil er längst ahnt, was in den Briefen steht, die jeden Monat vom Krankenhaus kommen. Einmal war der Umschlag eines solchen Briefes offen. Zufall? Oder ein Nachbar? In den Tagen danach ist Simone Schmitt mit eingezogenem Kopf durch‘s Treppenhaus gegangen. Immer in der Angst, irgendwo „AIDS-Schwein“ an die Wand gesprüht zu sehen.

Denn das Menschen so sein können, haben die Schmitts oft erfahren. Vor über zehn Jahren ist Bernd Schmitts erste Frau, Lars‘ leibliche Mutter, gestorben. Woran hat er erst erfahren, als sie schon im Koma lag. „Wir hatten es geahnt, der letzte noch ausstehende Test war der auf AIDS.“ Schmitt hat sofort auch sich und seinen Sohn testen lassen. Er selbst ist bis heute negativ, Lars positiv. Schnell verbreitete sich die Nachricht von der Todesursache in der Kleinstadt, in der Schmitt damals wohnte. Das „Komm doch mal vorbei“, der Freundinnen seiner verstorbenen Frau war plötzlich nichts mehr wert. „Die haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, wenn ich mit meinem Sohn davor stand.“ Auf dem Spielplatz haben Mütter ihn angeschrien: „Haut ab, ihr AIDS-Schweine!“

Bernd Schmitt hat es nicht mehr ausgehalten, ist nach Hamburg gezogen. Doch hier ist es nicht viel besser. Vor einigen Jahren drohte ein anonymer Briefeschreiber: „Wir kriegen euch!“ Im Kindergarten haben die Eltern einen Aufstand gemacht, als sie erfuhren, dass Lars HIV-positiv ist. „Am Ende konnten wir bleiben, aber drei Eltern haben ihre Kinder abgemeldet“, erzählt die Mutter. Kämpfe dieser Art kämpft sie täglich.

Ob Lars sie gewinnen würde? Weil die Schmitts nicht sicher sind, haben sie ihm bisher nichts verraten. Er weiß genau, dass er die Medikamente nicht einnehmen darf, wenn Leute zu Besuch sind, die nicht zur Familie gehören. „Warum?“, fragt er manchmal. Seine Mutter sagt dann, „das ist wie wenn ich meine Periode habe, das ist privat, muss nicht jeder wissen“.

Wenn Simone Schmitt sich etwas wünschen dürfte, „dann würde ich mein Blut mit dem von Lars tauschen, er ist doch noch so jung“. Sie sagt: „Wir könnten glücklich sein.“ Aber da ist immer diese Angst. Die Angst davor, wie der Junge mit der Wahrheit umgehen wird. Und die Angst vor dem Virus, „Wir wissen nicht, wie lange er uns bleibt“, sagt sein Vater.

Ilse Dankwart* leidet eher unter der Frage, wie lange sie ihren Kindern noch erhalten bleibt. Sie ist HIV-positiv und allein erziehende Mutter von einem Mädchen (7) und einem Jungen (11). Vor denen verbirgt sie ihre Krankheit und ihre Angst. Und wenn ihr Sohn fragt, „Mama, warum suchst du dir keinen neuen Mann?“, dann erzählt sie ihm nur die halbe Wahrheit, wenn sie sagt „das ist nicht so einfach“. Denn es gab durchaus den einen oder anderen, der sie und die Kinder mochte – aber das Virus dann doch nicht. Einmal hatte sie eine Affäre mit einem Mann, der ihr nicht glaubte, dass sie HIV-positiv ist. Später ersuchte er über seinen Anwalt nach einem Attest.

„Auf dem Spielplatz schrien sie Vater und Sohn an: „Haut ab, ihr AIDS-Schweine!“

Ilse Dankwart weiß seit etwa 13 Jahren, dass sie positiv ist. Sie hat es von einem Mann, hat nie nachvollzogen von welchem. Kinder wollte sie in dieser Situation eigentlich keine. Doch dann kam ein Mann, der liebte sie auch positiv, und wollte ein Kind mit ihr. „Na gut, habe ich gedacht. Er ist dann ja für das Kind da, wenn ich sterbe“, erzählt sie. Als das Wunschkind kam, ist er gegangen. Einige Jahre später ist sie ein zweites Mal schwanger geworden. Beide Kinder sind negativ – für die damalige Zeit ein kleines Wunder. Und doch ist es heute so, wie Ilse Dankwart es nie wollte: Sie sorgt allein für zwei Kinder und leidet unter der Frage: „Was passiert mit ihnen, wenn ich mal nicht mehr da bin?“ Sie hofft, dass sie so lange durchhält, bis die Kinder groß sind. „Meine Werte sind schlecht, aber das sind sie schon seit Jahren.“

Auch Ilse Dankwart war nicht immer eine Versteckspielerin, ihre Erfahrungen haben sie dazu gemacht. Beispielsweise die mit ihrer eigenen Familie: „Da durfte ich mir in den ersten Jahren kein Brot abschneiden.“ Im Badezimmer stand nur eine Flasche Sagrotan – Rasierapparat, Kämme, Zahnbürsten, alles war weggeräumt. Und sie hat auch erfahren, dass ihre Kinder ausgegrenzt werden, „obwohl die doch gar nichts haben“. Im ersten Kindergarten war sie noch offensiv: „Ich dachte, die müssten Bescheid wissen, falls mir etwas passiert“, erzählt sie. Die Folge: „Ich sollte alle sechs Monate ein Attest bringen, dass meine Kinder das Virus nicht haben.“ Sie hat einen anderen Kindergarten gefunden.

Doch auch bei ihr naht die Stunde der Wahrheit: „Die Kinder bekommen mit, dass ich Medikamente nehme.“ Momentan geben sie sich noch mit der Auskunft zufrieden, die Mama habe krankes Blut. Ihr Sohn hat neulich gefragt, ob es Krebs ist. „So ähnlich“, hat sie ihm da geantwortet. „Ich habe keine Angst vor meinen Kindern, die kämen damit klar. Ich habe Angst vor der Gesellschaft.“ Sie würde es nicht aushalten, wenn die Kinder plötzlich ihre Freunde verlören, weil sie krank ist. Mittlerweile würde sie ihren Kindern die Wahrheit verraten, wenn sie danach fragten. „Aber ich würde ihnen sagen, dass es unser Geheimnis bleiben muss.“

*Alle Namen geändert