Eine Reise ins Unbekannte

Irans Kinder online: Ihr Blick schweift mit jedem Mausklick in neue, weltweite Dimensionen. Ausgerechnet die religiösen Bildungszentren im Iran unterzogen das Internet einer Läuterung

Sie ging nach Finnland zu ihrer Netzbekanntschaft und blieb Selbst ernannte Sittenwächter ahnden jeden Verstoß gegen die Moral

von REINGARD DIRSCHERL

Sie kam aus Yazd, der alten Wüstenstadt, die wegen ihrer Kühle spendenden Windtürme aus Lehm in jedem Touristenführer verzeichnet ist. Den Tschador mit einer Faust eng unter dem Kinn zusammengezurrt, huschte sie durch die Gassen ihres Viertels, die Augen stur auf die staubigen Schuhe gerichtet. Mit Händen, Füßen und Argumenten hatte sich die Tochter des Hauses gegen den Computer zur Wehr gesetzt. Als dieser am Netz war, veränderte sich die Perspektive der religiösen Fanatikerin auf wundersame Weise. Online schweifte ihr Blick nach rechts und nach links und mit jedem Mausklick weiter in neue Dimensionen, bis sie den Dialog mit dem hohen Norden begann. Sie ging nach Finnland, zu ihrem Internetbekannten, der später ihr Ehemann wurde. Der Zweck heiligt die Mittel.

Noch im nachrevolutionären Iran der Achtzigerjahre galten die technischen Errungenschaften aus dem Westen als Teufelswerk. Diese Einstellung änderte sich jedoch, und im Frühjahr 1994 war das Land ans Internet angeschlossen.Die ersten Providernummern gingen an die theologischen Fakultäten. Ausgerechnet die religiösen Bildungszentren unterzogen das Medium des elektronischen Datentransfers einer Läuterung und befreiten es von seinem negativen Ruf, indem sie das Netz als Diskussionsforum für ihre religiösen Fragen nutzten. Die Universität „Howzeh-ye Elmieh“ in Qom, Pflaster so mancher klerikalen Karriere, hält ihre persisch-englische Website laufend auf dem neuesten Stand. Die „Shahid Beheshti-Hochschule“ bietet „islamische Software und Computer-Service“ an.

Die 15-jährige Shabnam zieht es in die Wüste. In der Nähe von Isfahan steht die bekannteste Sternwarte Irans. Shabnam schwärmt von den Nächten unter freiem Himmel, wenn die Sterne beinahe den Boden berühren. Die Gymnasiastin mit den leuchtenden Augen liebt es, zu träumen, und würde am Morgen gern länger im Bett bleiben, doch um sechs spätestens muss sie raus. Zwar beginnt der Unterricht erst um acht, aber der Schulweg durch den dichten Teheraner Stoßverkehr verschlingt Zeit, und zudem haben alle eine halbe Stunde vor Beginn auf dem Schulhof zu sein. Eine halbe Stunde täglich für das gemeinsame Gebet. Macht in der Woche drei Stunden. Drei weitere Stunden in der Woche gehören dem Internet. Aber im Unterricht ist der Umgang mit dem Netz kein Thema. In ihrer Freizeit surft Shabnam durch Milchstraßen und Galaxien. Denn die Schülerin hat konkrete Berufsvorstellungen: Astronomie möchte sie studieren.

Unentwegt läutet das Handy. Arash schmunzelt. Am anderen Ende ist Parvin, seine Eroberung aus dem Netz. Auch Arash träumt von den Gestirnen, denn „Parvin“ bedeutet „Plejaden“. Der 21-jährige ehemalige Biologiestudent hat sein Studium abgebrochen. Kein Wunder, denn Arash hat etwas anderes im Sinn: Mädchen. Und bei denen hat er Erfolg, zumindest im Chat-Room. „Schöne Mädchen von Teheran“ nennt sich der und ist immer voll. Arash teilt sich seine Providerkarte mit mehreren Freunden. Für ein Jahr bezahlt er 220.000 Toman (etwa 280 Euro). Das ist viel Geld, lohnt sich aber, denn er und seine Freunde sind begeisterte Chatter, und das World Wide Voice Chat ist in und einfach. Die wenigsten chatten schriftlich, denn die Chat-Schrift – für Neulinge ein Kryptogramm aus Buchstaben, Zahlen und Symbolen – will gelernt sein. Zusätzlich wird zwischen zwei Sprachen (Persisch und Englisch), Schriften (Lateinisch und Persisch) und Richtungen (Persisch wird von rechts nach links geschrieben) hin und her geswitcht.

Wieder läutet das Telefon. Parvin lädt Arash zu sich ein. Parvin sei 18 und geschieden, erzählt Arash. Ob er sie schon gesehen habe, frage ich. Per Webcam, und sie habe ihm ein Foto via Mail geschickt.

Das Internet hat sich zu einem festen Bestandteil der städtischen Mittel- und Oberschicht entwickelt. Laut Schätzungen haben 1,75 Millionen Iraner Zugang zum Netz. Das ist wenig bei einer Bevölkerung von 64 Millionen, von der etwa 70 Prozent unter dreißig sind. Doch monatlich gehen weitere tausende online, und Prognosen sagen bis in fünf Jahren etwa 5 Millonen voraus.

Wer keinen Computer zu Hause hat, besucht eines der zahlreichen Internetcafés, die in jeder größeren Stadt ihren Stammkundenkreis haben. Es gibt Rabatt und meistens auch was zu trinken, zum Beispiel im Chinesepid in Teheran.

An der Computermesse im Oktober wird in der Hauptstadt zum Verkauf angeboten, was der asiatische Raum zu bieten hat, Gebrauchsanweisung inklusive und mehrsprachig. Aber wie steht es mit der Gebrauchserlaubnis? Obschon die elektronischen Publikationen sowohl die Bewilligung des Kulturministeriums als auch der islamischen Führung erhalten haben, ist das letzte Wort über das Internet noch nicht gesprochen. Karim Arghandepour, Vorsitzender des Vereins iranischer Journalisten (AIJ), warnt in der iranischen Zeitung Iran Daily vor der Ausdehnung des restriktiven Pressegesetzes auf das Internet. Gerüchten zufolge hat sich bereits ein spezieller Überwachungszweig der Justiz formiert, um sich ausschließlich der Kontrolle des Internets anzunehmen. Während eine Seite die Zügel für eine zivile Gangart lockert, ist eine andere damit beschäftigt, diese anzuziehen.

Seit gut einem Jahr publizieren iranische Journalisten online. Viele Intellektuelle haben, nachdem die unabhängigen Printmedien von höchster Instanz verboten worden sind, hier einen Freiraum entdeckt. Stammten die ersten Websites (Gooya, The Iranian und Peyvand) noch aus den USA und Europa, von wo aus die Exiliraner sich an die iranische Diaspora und ihre Heimat wandten, ist nun „made in Iran“ Markenzeichen für Iraner im In- und Ausland. Dahinter stehen meist junge Teams, deren Zusammenarbeit sich nicht von einer Ausgabe zur anderen ändert.

Zu den bekannten Informationsseiten im Inland zählen Rooydad und Emrooz. Letztere ist aus unbekannten Gründen vor kurzem geschlossen worden. Tehran Avenue – ästhetisch und übersichtlich aufgemacht – ist ein junges, zweisprachiges Portal. Es bietet Veranstaltungshinweise und Wissenswertes zu Themen, die den Teheranern auf den Nägeln brennen.

Es ist 12 Uhr Nacht. Das Telefon läutet. „Arash ist verhaftet worden.“ Das erste Treffen mit Parvin habe eine überraschende Wende genommen, berichtet sein Freund. Es stellte sich heraus, dass die Kleine von den Plejaden verheiratet war. Arash kam mit einer Buße davon. Keine Anzeige wegen Ehebruchs, zum Glück. Dennoch werde er erst mal aus der Stadt verschwinden. Immer noch gibt es die Basij oder selbst ernannte Sittenwächter, die jeden Verstoß gegen die Moral ahnden.

Etwas ist ihm klar geworden. Auch im Netz gibt es zwei Sorten von Frauen: die guten und die schlechten. Jede Seite hat eine Kehrseite.