Eine Familie zum Knutschen

Fast drei Monate vertauschten die Boros ihr Berliner Reihenhaus mit einem Bauerngehöft des Jahres 1902. Ab Montag dokumentiert die ARD in vier Folgen das faszinierende „Living-History“-Projekt („Schwarzwaldhaus 1902“, 21.45 Uhr)

von STEFFEN GRIMBERG

Was tun, wenn das Schwein partout nicht will? Es mit dem Kopf in den Eimer stecken natürlich und rückwärts aus dem Stall bugsieren.

Den Tipp mochte der Landwirt aus der Nachbarschaft den zugereisten Städtern noch geben für ihre „Landpartie“ der ganz besonderen Art. Doch dann konnte auch er nicht mehr helfen. Denn die fünfköpfige Berliner Familie Boro tauschte nicht nur ihr gutbürgerliches Hauptstadtleben mit einer bäuerlichen Existenz im Schwarzwald. Für fast drei Monate zogen die Boros auch in der Zeit zurück – ins Jahr 1902.

Wie ein „Abschied für immer“, sei ihr das vorgekommen, als sie im Sommer 2001 auf den Hof oberhalb des Münstertals zogen, sagt Marianne Hege-Boro heute. Und man nimmt der 46-jährigen Erzieherin ab, dass in ihr auch immer noch ein bisschen die Bauersfrau von vor 100 Jahren denkt und fühlt.

Was die fünf Boros in den zwei Sommermonaten und einer kürzeren Winterzeit dieses zurückgeholten Jahres 1902 erlebt haben, hat der Südwestrundfunk in vier Folgen zusammengefasst. Einen Hof führen wie damals, ohne Strom und fließendes Wasser, die Annehmlichkeiten einer Einbauküche oder auch nur schon 1902 existierende Landmaschinen und Gerätschaften. Denn besonders wohlhabend durften die Boros auch nicht sein. Sie repräsentierten eine durchschnittliche Bauernfamilie, für die eigene Pferde unerreichbarer Luxus wären.

Immerhin: Für die Ernte ist ein bisschen Geld für einen Zugochsen da. Sonst spannt sich der promovierte Physiker Ismail Bobo eben selbst vor den Leiterwagen.

Gelebte Geschichte

Was bei der Ankündigung des „Living History“-Projekts als Annäherung an ein öffentlich-rechtliches „Big Brother“ bespöttelt wurde, ist in Wirklichkeit eine faszinierende Zeitreise – und wegen der so stimmungsvollen wie zurückhaltenden Umsetzung durch den SWR eines der TV-Ereignisse 2002. Dafür sorgen die wunderbare Kamera von Jörg Jeshel („Innere Sicherheit“), die nie ins Pädagogisierende abdriftende Regie von Volker Heise – und vor allem die Famile Boro.

Rund 1.500 Stunden hat sie in ihrem Jahr 1902 verbracht, bei gut 300 davon war die Kamera dabei. Die vierteilige Reihe verdichtet dieses Landleben auf drei knappe Stunden, mit einer Dramaturgie, die sich von selbst ergab: Auch wenn dazu überwiegend die Sonne scheint, geht es stets ganz schlicht ums Überleben.

„Wir haben dieses Leben dort oben wirklich gelebt“, sagt Ismail Boro. „Der Film trifft uns ziemlich genau.“ Die Familie hat das Abenteuer noch stärker zusammengeschweißt, „die Zeit war uns unheimlich intensiv“.

Für die Vorbereitung der Reise in die alles andere als verkitscht-gute alte Zeit gab es für die Boros gerade mal ein vierwöchiges Intensivtraining in einem Freilichtmuseum – zu wenig, wie sich bald zeigen sollte. Das renitente Schwein Barny, dass nie den Weg von der Weide zum Stall fand, war noch die niedlichste aller Schwierigkeiten. Es folgten eine verfaulte Kartoffelernte, eine kranke Kuh, die keine Milch mehr gab. Weil die Boros mit der Heuernte zögerten, verregnete ihnen der größte Teil des dringend benötigten Winterfutters. Und gleich in der zweiten Woche hatte Ismail Bobo einen Leistenbruch.

Doch was zum Abbruch des ganzen Projekts hätte führen können, ließ sich dann überraschenderweise sogar mit den Bordmitteln des Jahres 1902 lösen: Ein Bruchband ermöglichte die Weiterarbeit – „damals trugen das schätzungsweise rund 80 Prozent der Schwarzwald-Bauern“, sagt der zuständige SWR-Redakteur und Koautor Rolf Schlenker.

Doch ans Aufgeben haben die Boros höchstens heimlich gedacht – 1902 wäre dies ja auch nicht möglich gewesen. Ihr „anderes“ Leben hat die Familie bis heute verinnerlicht: „Es ist für uns ein heiliger Ort“, sagt Ismail Bobo. „Wenn wir davon reden, sagen wir Zuhause“, meint die damals 18-jährige Reya.

Was sie am meisten vermisst haben, klingt dagegen nachgerade prosaisch: „Papiertaschentücher“, so Reya. Überhaupt Zellstoffprodukte: Klopapier gab es auf dem Donnerbalken nämlich auch keines. Dafür Dauerbelüftung – und eine spektakuläre, im Film nicht zu sehende Verstopfung. „Wir und die Kühe haben ins gleiche Plumsklo gemacht“ – das Stallstroh sorgte für die Blockade.

Zurück ins Jahr 1902 würde aber die ganze Familien ziehen, sagt Marianne Bobo. Nur anders. „Diesmal waren wir Bauern im Schwarzwaldhaus. Jetzt wären wir zur Abwechslung gerne mal ein gut situierte Gutsherren-Familie in Pommern.“

(Folgen 2 bis 4 am 4., 6. und 9. Dezember, jeweils 21.45 Uhr, ARD)