Hohe Suizidrate schockiert China

Erstmalig veröffentlicht China Selbstmordstatistik. Junge Frauen besonders betroffen

PEKING taz ■ An der renommierten Tsinghua-Universität in Peking gibt es zwei Hochhäuser, die für ständig neuen Gesprächsstoff sorgen: „Vom einen springen die mit Liebeskummer, vom anderen jene, die den Prüfungsstress nicht aushalten“, erzählen sich die Studenten. Doch sie tun es hinter vorgehaltener Hand. Keine Universität Chinas hat bisher die Selbstmordzahlen ihrer Studenten veröffentlicht. Suizid ist im nach konfuzianischer Gesellschaftharmonie strebenden Ein-Parteien-Staat ein heiklesThema.

Umso mehr überrascht es, dass sich die chinesischen Behörden jetzt erstmals zur Veröffentlichung einer nationalen Selbstmordstatistik durchrangen. Und das nicht nur anhand einer seriösen wissenschaftlichen Untersuchung, die demnächst in einer britischen Fachzeitschrift erscheinen wird, sondern auch über die staatlichen Massenmedien. „Umfrage zeigt schockierend hohe Selbstmordrate“, titelte gestern die Pekinger Zeitung China Daily.

Schockierend ist das richtige Wort. Forschungen chinesischer und ausländischer Psychologen über einen Zeitraum von sieben Jahren ergaben, dass sich allein im letzten Jahr 287.000 Chinesen das Leben nahmen. Das sind 3,6 Prozent aller Todesfälle in China. Nur vier Krankheiten, darunter Bronchitis, Leberkrebs und Lungenentzündung werden in China häufiger als Todesursache festgestellt. Besonders erschreckend ist, dass sich ein 25 Prozent mehr Frauen umbringen als Männer. International ist das umgekehrt. Bei chinesischen Frauen im Alter zwischen 15 und 34 Jahren ist Selbstmord die häufigste Todesursache – vor allem in den ländlichen Gebieten. Weiblicher Suizid macht hier ein Drittel aller Todesfälle aus.

„Den Frauen auf dem Land fehlen Aufstiegschancen, sie bekommen keine Unterstützung von der Gesellschaft“, so der Psychologe Li Xianyun, Koautor des Berichts. Doch die Ursachen für die insgesamt zwei Millionen Selbstmordversuche im Jahr sind vielfältiger. Die Autoren verweisen auf die zunehmende soziale Entwurzelung im Zuge der rasanten Wirtschaftsentwicklung. Sie verweisen auf fehlende religiöse Tabus. Und sorgen sich nicht zuletzt um die in China leicht verfügbaren Rattenpestizide, die den Anteil erfolgreicher Selbstmordversuche um ein Vielfaches höher liegen lassen als im Westen.

„Ein guter Selbstmord ist schlechter als ein unglückliches Leben“, lautet ein altes chinesisches Sprichwort. Doch selbst in dieser der Abschreckung dienenden Redensart schwingt eine gewisse Ambivalenz mit, die in der Regel nicht eingestanden wird. Das kann sich nun ändern: In Peking soll nächste Woche das erste Beratungszentrum für Suizidgefährdete öffnen. GEORG BLUME