Sauerbraten gegen Pick-up-Truck

„Die arbeiten hier länger und härter“, hat er festgestellt. Dafür muss er nicht mehr unter Tage

aus Beckley MICHAEL STRECK

Beckley, 23. November. Irgendjemand hatte vergessen, Steffen Scholands Sozialversicherungsnummer zu beantragen. Ohne sie wird man kein vollwertiges Mitglied der amerikanischen Gesellschaft. Da nützt auch die Arbeitserlaubnis nichts. Er bekam keine Wohnung, kein Konto, Telefon und das Schlimmste: kein Auto. So verbrachte er die erste Zeit im Hotel „Country Inn“ direkt neben dem Highway und benutzte „lustige Telefonkarten“ für den Draht nach Bottrop. Wenn er sich etwas zu essen kaufte, musste er zu Fuß gehen und lernen, dass es in seiner neuen Heimat keine Bürgersteige gibt. „Ich wurde fast überfahren.“

Drei Monate sind nun vergangen, und er steuert einen metallic-grünen Chevrolet „Silverado“, als hätte er nie etwas anderes gefahren als diesen riesigen Pick-up-Truck, der durch keine deutsche Innenstadt passen würde. Doch hier gibt es steile Berge und im November liegt schon Schnee. Und wenn Überschwemmungen und Tornados West Virginia heimsuchen – erst kürzlich spülten Herbststürme ganze Orte weg – bietet der Wagen eine sichere Zuflucht, eine Eigenschaft, die er seinem ersten eigenen Domizil nicht unbedingt zutraut. Das grau-weiße Reihenhaus mit den dünnen Sperrholzwänden steht im Vorort „Prosperity“. Der Wohlstand drückt sich jedoch weniger durch die identischen Häuser aus, sondern durch die geparkten Autos. Steffen Scholands Truck stößt mit der Schnauze fast in das Wohnzimmerfenster. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa. An der Wand hängen einige Familienfotos und Bilder von Ashley, seinem amerikanischen Freund. Die Klimaanlage pustet warme Luft durch Schächte in der Decke. Er trägt ein T-Shirt der Football-Mannschaft „Rheinfire Düsseldorf“ mit einem großen „Schlösser Alt“-Aufnäher. „Ich bin total glücklich hier“, sagt er. „Ich habe einen Chevy und ein eigenes Haus. Wer hat das schon mit 20.“

Steffen Scholand fühlt sich in der Fremde wohl. Die Leute sind nett. Der Umgang zwischen den Menschen ist unkomplizierter und alle reden sich mit dem unkomplizierten you an. „Den ganzen Sie-Kram mochte ich noch nie.“ Selbst zum Truthahnessen am Familienfest Thanksgiving wurde er von Arbeitskollegen eingeladen. Außer ihnen und einem Typen im Wal-Mart hat er jedoch noch niemanden kennen gelernt. Er muss rackern, hat kaum Freizeit. Um halb sieben am Morgen beginnt die Schicht in der Mine, am Samstag um vier. „Die arbeiten hier länger und härter“, sagt er. Doch der Job macht ihm mehr Spaß als zu Hause, da er nicht mehr unter Tage muss. Und sonst, irgendetwas anders als daheim? Die Sicherheitsvorschriften seien viel schärfer. Einmal die Woche muss er zum Training. „Das liegt wohl an den vielen Schadensersatzklagen.“ Es laufen sogar Werbespots im Fernsehen, in denen Rechtsanwälte Bergleute für Klagen gegen ihre Firma suchen.

Zuweilen ist das Leben hier komisch. Zum Beispiel wenn sein Nachbar morgens aus dem Haus kommt, den Motor anschmeißt, laufen lässt, erstmal einen Kaffee trinken geht und nach 20 Minuten wieder auftaucht, um schließlich loszufahren. Oder die Sache mit dem Kautabak. Überall auf der Arbeit stehen oder hängen unappetitliche Spuckbecher herum. „Das ist gewöhnungsbedürftig.“

Manchmal ärgert sich Steffen Scholand ein wenig über seine neue Heimat, zum Beispiel wenn er ein Bier trinken will. Die Bardamen und Supermarktverkäufer kennen kein Erbarmen, da er noch nicht 21 ist, bekommt er keinen Alkohol. Er findet die Innenstadt von Beckley arm und schmuddelig. Und er war verwundert, wie religiös die Menschen sind. „Am Sonntag rennen die alle in die Kirche.“ Seine Kollegen sind mit Mitte zwanzig verheiratet und haben Kinder. „Der Garry hat in seinem Truck im Handschuhfach immer eine Bibel liegen.“

Nein, Heimweh hat er nicht. Jeden Sonntag telefoniert er mit seiner Mutter und im Frühjahr wollen seine Eltern ihn in West Virginia besuchen kommen. Was er nicht vermisst? Er überlegt. „Rassismus und Regen. Aber ich vermisse Sauerbraten und eine richtig große Stadt.“ Außerdem gibt es hier nur zwei Orte, an denen man Mädels kennen lernen kann: In der Kirche und der Shopping-Mall. Daher will er im Dezember nach Las Vegas fliegen. „Ich zähle nur noch die Tage.“

Alt werden will Steffen Scholand hier nicht. Die Kohle hier im Tagebau reicht zwar noch acht Jahre und solange George W. Bush Präsident der Vereinigten Staaten ist, müssen sich die Kohlekumpel keine Sorgen machen, da dieser anständig subventioniert. Er betrachtet Beckley und seinen Sprengmeisterjob als Sprungbrett. Später möchte er gern studieren, an der nahe gelegenen Mountain State University vielleicht. „Irgendwas mit Wirtschaft.“ Im Grunde zieht es ihn noch weiter in den Westen, nach Los Angeles, wo Ashley wohnt.