Rätsel um … die geräuberten Gummibärchen

Dem Buddhismus von der Schüppe gesprungen: Korrespondenz mit einem diebischen Zusteller

Zauberhafte Ideen sind Brief und Briefgeheimnis. Allein: Was bleibt von ihnen übrig in der wirklichen Wirklichkeit? Wie oft wird man zum Objekt seelischer Misshandlung durch blau-gelbe Wetterjackenträger: Auf ein avisiertes liebes Päckchen wartend, wird man gewahr, wie leise schleichende Schritte sich der Wohnungstür nähern. Klapp! macht es am Briefschlitz: Ein oranges Kärtchen segelt in den Flur und teilt einem mit, dass man auch tags zuvor nicht angetroffen wurde und sich sein Päckchen deshalb selbst bei der Post abholen muss, allerdings: „heute jedoch nicht!“ Ehe man noch die Tür aufgerissen und die Verneinung eines Postboten gestellt hat, hört man flinke Füße das Treppenhaus hinabwetzen, eilig, angstgepeitscht, panisch.

Der Postkunde bleibt zurück. Was soll er tun? Seinen Humor motivieren? Ein Leben in stiller Verzweiflung führen? Unwürdige Maßnahmen ergreifen? Sich auf die Lauer legen? Mausefallen aufstellen? Nein, das wäre kein Leben. So scheint nichts zu bleiben als buddhistisch eingefärbter Selbstbetrug: Sieh es als Übung an, gleichmütig zu werden!, jengelt man sich voll und stülpt sich in Gedanken eine Mönchskutte über. Bleib distanziert. Du hast auf ein Päckchen gewartet und wirst es erst morgen bekommen? Na und? Nichts ist wichtig, nichts hat Bedeutung … Solches Zeug singsangt man sich ins Eigenohr, als sei man ein Tantriker und brummele sich ölige Lehren ins Resthirn: Auch beim Hecheln immer lächeln … – furchtbar.

Nein, so geht es nicht – man kann sich doch nicht von Postboten in religiöse Bematschheit hineinzwingen lassen! Und so nimmt man den Felsbrocken und rollt ihn wieder bergan, als Camus-geprägter Sisyphus, der weiß, wie zwecklos es ist, und der dennoch nicht müde wird, zum Postamt zu laufen, Briefmarken zu kaufen und Pöste zu verschicken, deren Schicksal ungewiss ist, liegt es doch in den Händen seelenloser Apparatschicks.

Der Chef und Spiritus Rector aller Zustellungsverbrecher hat sein Hauptquartier im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg aufgeschlagen. (Vorsicht: Wer „Prenzelberg“ sagt, kommt in die Berliner Mundarthölle.) Über Wochen schickte ich von überall aus dem Land Briefe an eine Adresse im Prenzlauer Berg – Briefe, denen kleine Gummibärchentüten beilagen, die ich in Hotelzimmern als so genanntes Betthupferl auf dem Kopfkissen fand. Briefen an die Süße legte ich Süßes bei – doch der Zusteller, ein Teufel in Menschengestalt, räuberte sie alle: Er öffnete die Briefe, ergriff die Gummibärchentüte, schnitt sie auf, nahm die Gummibärchen heraus, legte die leere Tüte in den Brief zurück – und stellte den so geschändeten Brief dann zu.

Anfangs dachte ich an einen übereifrigen Drogen- oder Milzbrandparanoiker. Ich legte den Gummibärchenbriefen kleine Notizen an den räuberischen Zusteller bei und forderte ihn auf, die langen Finger bei sich zu behalten – vergeblich: Brief und Notiz wurden zugestellt samt leerer Gummibärchentüte. Ich gab nicht auf. Fast täglich schickte ich einen Gummibärchenbrief – und ausnahmslos immer wurde er geschändet. Der Ton meiner Notizzettel war mal flehentlich, mal schneidend, mal belustigt, aber was ich dem Dieb auch schrieb, es änderte gar nichts. Hier ein Beispiel: „Hallo Dieb!“, schrieb ich. „Die Gummibärchen sind für meine Süße, nicht für einen anonymen Mundräuber! Deshalb: die unegalen Finger weglassen und die Gummibärchen nicht behelligen.“ Das Ergebnis? Eine leere Tüte im Briefumschlag.

Ich versuchte es mit kleinen Schokotäfelchen – zugestellt wurde ein Brief mit leer gefressenen Schokoladenpapierchen. Dann trat eine Wende ein. Ich griff in die Kiste mit Gebrauchtparolen und schrieb: „Subversive Aktion Gummibärchen läuft – No pasaran!“ Die Tüte wurde zwar geplündert – doch ein Gummibärchen wurde zugestellt. Immerhin! Ein Anfang schien gemacht.

Ich goss das zarte Pflänzchen zustellerischer Einsicht und formulierte: „Achtung, Gummibärchendieb – Empfängerin hat Geburtstag! Wird der schändliche Klauer also ein Einsehen haben?“ Er hatte – allerdings nur bedingt: Das wiederum aufgeschnittene Tütchen im wiederum zugestellten Brief enthielt noch drei Gummibärchen.

Weitere Besserung aber konnte nicht erzielt werden. Seither wurden alle Gummibärchentütchen komplett ausgeräubert – so lange, bis ich es sein ließ und die Süßigkeiten aller Art persönlich zustellte. Und das war ja wohl auch der Plan des Zustellungsschurken, oder?

WIGLAF DROSTE