■ Kein Lifestyle zum Nachahmen
: Gier nach Hunger und Verhungern

betr.: „Skinnygirl. 1,74 Meter, 47 Kilo“, taz vom 27. 11. 02

Der Artikel über magersüchtige „Skinny Minnies“ hat mich berührt und an meine eigene „magere“ Zeit erinnert. Paradoxerweise hat mich damals vor fast 20 Jahren meine Gier und Neugier gerettet. Ich war so gierig nach Hunger und Verhungern, dass ich es unmöglich nur auf eine einzige Weise habe versuchen wollen. Ich hungerte mich bis an die Bewusstlosigkeit heran, als mir bewusst wurde, dass ich ja dann die Kontrolle verliere. Deshalb wagte ich auch gleich noch einen blutigen Suizid, den ich als blutiger Anfänger stümperhaft ausführte und überlebte. Man kann sich halt nicht doppelt umbringen, nach dem ersten Mal ist es für das zweite Mal zu spät und meine Neugier wäre nicht gestillt worden, wie es mit der anderen Methode geworden wäre.

In manchen Kulturen ist es üblich, auf eine besondere Suche zu gehen, um eine Vision zu bitten und dabei zu fasten. Das Hungern soll einen selber schwach machen, damit man auf die ungewöhnlichen Dinge aufmerksam wird, die man sonst nicht beachtet, und es soll auch Mitleid der höheren Kräfte bewirken, die dadurch sehen, dass es einem mit dem Anliegen ernst ist. […].

Hunger vertreibt den Humor. Hungernde sind oft auch eingefleischte Vegetarier. Sie bilden ein Gegengewicht zu der allgemeinen Konsummentalität. Was mir selber geholfen hat, waren die halluzinatorischen Erlebnisse, die mir mein Unterzucker beschert hat. Ich hatte einmal das Bild, dass die ganzen stofflichen Massen, die wir immerzu in uns reinstopfen müssen, in Wirklichkeit nur einen ganz geringen Anteil an wirklich nahrhafter Substanz in sich bergen. Man futtert also Unmengen von Äpfeln, Schokolade, Braten, Eis usw. in sich hinein, aber der Gehalt an dem, was wir wirklich brauchen, ist nur sehr winzig. Mir wurde klar, dass auch Dicke hungern. Ich schaffte es später dann, meinem Hunger eine Diät zu verpassen, bevor er mich ganz auffressen konnte.

Die Krankheit, die alledem zugrunde lag, konnte jedoch erst später besiegt werden, als ich zu Kräften gelangte. Zur Schande aller mich behandelnden Psychologen, Ärzte und Psychiater muss ich sagen, dass sie die Ursache weder erkannten noch behandeln oder heilen konnten – allenfalls ahnten. Ohne das jetzt weiter ausführen zu wollen, ist es so gewesen, dass ich intuitiv etwas in mir aushungern wollte, das nicht zu mir gehörte und mich zu vernichten drohte. Ich konnte praktisch einen Waffenstillstand erreichen, bis Jahre später Hilfe von außen kam in Gestalt von jemandem, der sich damit wirklich auskannte und Abhilfe wusste – ohne Diplom und Kassenzulassung übrigens. Vielleicht hatte ich mir das herbeigehungert. N. M., Konstanz

Magersucht als Lifestyle zu betrachten, ist so ironisch wie weniges sonst. Ich selbst war lange Zeit magersüchtig und vor einem Aufenthalt in einer Klinik kurz vor dem Nicht-mehr-sein-Können, mein Exfreund ist an den Folgen seiner Anorexie gestorben.

Es gibt nicht viele Krankheiten, die so lebensfern sind wie Anorexie. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung ist die Einsicht, überhaupt Hilfe zu brauchen. Diese wird durch Webseiten wie Klaras völlig verhindert, da sich die Mädchen immer wieder untereinander vom Gegenteil überzeugen können. Was Klara und ihren Mitstreitern/-innen als Hilfe zu wünschen ist, ist dennoch nicht die Schließung der Webseite als anscheinend einzige Anlaufstelle, sondern jemand, der ihnen zeigt, wie vernichtend der Glaube ist, stylisch hungern zu können, und dass es tatsächlich Wege aus der Sucht geben kann. Viel Glück. L. S., Berlin

Ihr Artikel beleuchtet leider nur die Pro-Magersucht-Bewegung, und gerade junge Frauen könnten den Eindruck gewinnen, dieser „neue Lifestyle“ sei chic und nachahmenswert. Die Fakten sind andere: 10 Prozent der Magersüchtigen sterben an ihrer Krankheit, mindestens jede zweite Magersüchtige ist jahrelang oder sogar chronisch an dieser psychosomatischen Störung erkrankt, die Therapie ist hart und schwierig. Wie bei substanzgebundenen Suchtkranken sind Rückfälle in das alte Verhaltensmuster häufig, zumal die Verstärker der Umwelt vermeintlich süßen Lohn für die harsche Selbstbeherrschung des Körpers darstellen.

Weiter ist natürlich auch das Gefühl der Autonomie wenigstens in diesem ureigenen Bereich des Körpers bedeutsam, gerade bei dem nicht unerheblichen Teil der Betroffenen, die in ihrer Kindheit und Pubertät körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht wurden. Auch bei Skinnygirl dreht sich alles um das Essen und die damit verbundene Macht über den Körper: eindrucksvoll zeigt der Artikel um Astrid Geisler, wie das Leben um das Thema Essensverzicht und verbesserter Kalorienverbrauch herum organisiert wird. Wenn sich Skinnygirl dann stundenlang im Internet mit anderen Pro-Anorekterinnen austauscht, zeigt dies nicht nur, welche Gefahren dieses neue, gerade für Heranwachsende leicht zugängliche Medium birgt, sondern auch wie sehr das Internet neben dem bekannten Gewalt- und (Kinder-)Pornografie-Problem zum Forum für Bagatellisierung von Krankheit und Suchtverhalten werden kann.

Der Druck auf die Provider, Pro-Anorexie-Foren, Suizidforen und andere krankheitsfördernde Chats abzuschalten, hat deshalb nichts mit Zensur zu tun, sondern ist der Versuch, Menschenleben zu retten, gerade wenn es sich noch um Schülerinnen und Heranwachsende handelt, und das Internet nicht weiter zu diskreditieren. […] Über unser Projekt www.hungrig-online.de schreiben Sie, Skinnygirl habe dort erstmals über Pro-Ana-Seiten gelesen. Das wollen wir nicht ausschließen, wir thematisieren dies offen als schädlich für unsere UserInnen. […] Uns geht es darum, den betroffenen Menschen einen Ausweg aus der Essstörung zu zeigen und auf die vielfältigen Therapieangebote hinzuweisen. Der Erfahrungsaustausch der Betroffenen wird deshalb von Moderatorinnen, die ihre Krankheit erfolgreich überwunden haben, moderiert. PETER LEIBERICH,

mezinischer Leiter bei Hungrig-Online e.V., Erlangen

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.