Kulturkampf um Kinderbetten

Erfolgreiches Lernen kann Spaß machen. Aber dieser Erkenntnis verweigern sich auch ein Jahr nach Pisa noch immer autoritäre Eltern, Pädagogen und Politiker in Deutschland

Viele Schüler leiden unter dem Leistungsdruck und spüren wenig Interesse der Lehrer für ihr Lernen

Erziehung kann ein echter Aufreger sein. Als der Bundestag jüngst das Angebot der Regierung debattierte, mit vier Milliarden Euro die Ganztagsschulen zu fördern, posaunte der Christdemokrat Thomas Dörflinger am Rednerpult: „Die Lufthoheit über den Betten unserer beiden Kinder haben meine Frau und ich.“ Tosender Applaus der Konservativen.

Dabei ist das Geld für den Aufbau von Ganztagsschulen bislang die einzige substanzielle Reaktion auf die Pisa-Studie. Sie hat vor genau einem Jahr die deutschen Dichter-und-Denker-Eltern damit geschockt, dass ihre fünfzehnjährigen Kinder in einem weltweiten Schulleistungsvergleich nur auf einem 25. Platz landeten. Da die Bundesländer auf dieses Ergebnis nicht reagierten, spendierte der Kanzler, obwohl eigentlich nicht zuständig, das gigantische Ganztagsschulenprogramm. Und die Eltern der Nation? Sie empören sich.

Warum nur? An den Ganztagsschulen allein kann die Aufregung nicht liegen. Ganze 20 Prozent der deutschen Schulen will die rot-grüne Bundesregierung in den nächsten Jahren in Ganztagseinrichtungen umbauen helfen – und keiner muss seine Kinder dorthin schicken.

Die Ursache des Unmuts hat tiefere Wurzeln: Das Verständnis davon, wie Schule und Lernen sein sollen, war bereits vor der Schulstudie tief gespalten. Der eigentliche Dissens ist in verschiedenen Ideologien des Lernens begründet, die die Begriffe Erziehung und Bildung absolut gegensätzlich deuten. Im Alltag von Schule sind Bildung und Erziehung zwar nicht voneinander zu trennen. Jeder Lehrer ist ratlos, wenn man ihn fragt, ob er seine Schüler nun bilde oder erziehe. Denn er tut immer beides. Aber in den Augen vieler Eltern ist das ganz anders. Da verläuft zwischen Bildung und Erziehung eine unsichtbare, doch klare Scheidelinie. Diese weltanschauliche Differenz ist fundamental. Sie trennt, vereinfacht gesagt, Autoritäre und Antiautoritäre. In anderen Worten: Erziehung ist rechts, Bildung links.

Daher hat die ideologische Orchestrierung des Projekts Ganztagsschulen den Nerv der Leute getroffen: Schließlich will SPD-Generalsekretär Olaf Scholz damit die „Lufthoheit über den Kinderbetten erobern“, ja er bezeichnete das Projekt als eine Kulturrevolution. Konservative und Kirche definierten Scholz' verunglückte Sprüche flugs um in „sozialistische Herrschaftsansprüche über Ehe und besonders Familie“ (Bischof Lehmann) und die „Tradition eines freiheitverachtenden sozialistisch-totalitären Denkens“ (FAZ). Schulpolitiker aus der Union und viele Eltern pochen seitdem lauter denn je auf ihr grundgesetzlich garantiertes Erziehungsrecht, da sie fürchten, dass Ganztagsschulen dies verletzen könnten.

Der neue Kulturkampf über den Kinderbetten und in den Klassenzimmern ist damit entfacht. Denn: Strenge Eltern finden es völlig richtig, dass Schule eine Erziehungsanstalt ist. Die Vermittlung von Sekundärtugenden ist den Autoritären sogar das primäre Ziel des Unterrichts. Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß sollen den Boden fürs Lernen erst bereiten. Das ist zunächst einmal eine hübsche Ironie, da diejenigen, die Nachmittagsunterricht als Eingriff in ihr Erziehungsrecht ablehnen, vormittags in der Regelschule nach erzieherischen Maßnahmen verlangen. Die eher Antiautoritären denken anders. Sie meinen, dass Schule eine Bildungseinrichtung sei. Schule ist für sie dazu da, selbstständige Persönlichkeiten zu bilden. Der Inhalt steht im Mittelpunkt. Schule soll Wissen und Kompetenzen vermitteln. Sekundärtugenden mögen dabei das bleiben, was sie vom Namen her sind: Nebenqualifikationen, die der Schüler nur en passant erwirbt.

Konsens zwischen rechten „Erziehern“ und linken „Bildnern“ zu erzielen ist so gut wie unmöglich – außer beim Musikunterricht. Wenn sich über Spaß an der Musik ein erzieherischer Effekt wie von selbst einstellt, sind beide zufrieden: Es geht um den Inhalt, und die Schüler erkennen nebenbei, dass Selbstdisziplin, fleißiges Üben und Pünktlichkeit der Sache durchaus zuträglich sind. Niemand Vernünftiges käme auf die Idee, ein Kind, das nicht Klavier spielen mag, durch Leistungsdruck zu „motivieren“. Und damit endet die Einigkeit schon.

Geht es darum, die zentralen Pisa-Kompetenzfelder wie Deutsch, Mathematik oder Naturwissenschaften zu stärken, gelten mehrheitlich noch immer Disziplin und Leistungsdruck als probates Mittel des Anspornens. Spaß am Lernen ist dagegen geradezu verpönt. Man denke nur an die Reaktion, die der damalige Bundespräsident Roman Herzog auslöste, als er mit den vermeintlichen Kuschelecken deutscher Schulen aufräumen wollte: Er bekam rauschenden Beifall. Viel zu wenige kritisierten die Aussage als das, was sie war: eine reaktionäre und mit keinem Argument begründete Attacke gegen die Reformpädagogik.

Die Ergebnisse von Pisa und ihre empirische Beweiskraft wären nun eine ideale Voraussetzung, um die deutschen Ideologen zu versöhnen. Die Forscher von der „Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit“ (OECD) stellen dazu Daten bereit – und geben im Übrigen eher allgemeine Ratschläge: „Schüler und Schulen können in einem Klima, das geprägt ist von hohen Erwartungen und der Bereitschaft, sich anzustrengen, von Freude am Lernen, Disziplin und einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis, Besseres leisten.“ So steht es etwa in den politischen Empfehlungen, die gerade veröffentlicht wurden.

Daraus hätte jeder in Deutschland herauslesen können, dass erfolgreiches Lernen von zahlreichen Faktoren begünstigt wird. Über interessante Einzelergebnisse ließen sich die Faktoren sogar gewichten. Etwa: Nirgendwo sonst in den Pisa-Ländern erwarten Eltern und Lehrer mehr von Schülern als in Deutschland. Viele Schüler leiden unter diesem hohen Leistungsdruck, spüren jedoch andererseits wenig Interesse der Lehrer für ihr Lernen. Es wäre also, empirisch munitioniert, interessant gewesen, den Faktoren Spaß und Disziplin in der deutschen Schule einmal auf den Grund zu gehen.

Die Vermittlung von Sekundärtugenden ist den Autoritären sogar heute noch primäres Ziel des Unterrichts

Das Resümee der OECD fiel jedoch vorerst nicht auf fruchtbaren Boden. Eine renommierte deutsche Zeitung reduzierte, stellvertretend für die Konservativen, den komplexen Befund auf diesen gemeinsamen Nenner: „Bessere Leistungen durch strenge Disziplin.“ Spaß kann Lernen also nicht machen. Rechte, aber auch Linke suchen beharrlich bei ihren altbekannten Formeln nach Lösungen für das Bildungsdesaster.

Wenn die Deutschen aber eine Antwort auf Pisa finden wollen, müssen sie zunächst ihr neurotisches Verhältnis zu den Begriffen Bildung und Erziehung klären. Ihr Stichwortgeber sollte dabei nicht unbedingt der Pisa-Interpret Andreas Schleicher sein. Sie müssen zuerst ihren Frieden machen mit den deutschen Vorzeigepädagogen: allen voran mit Friedrich Fröbel, Wilhelm Humboldt und Hartmut von Hentig. Sie haben allesamt eine freiheitliche Pädagogik vertreten, wurden weltberühmt –und galten nie etwas im eigenen Land.

CHRISTIAN FÜLLER