Kanzler im Tunnel

Der Kanzler sprach von „bodenlosen Frechheiten“ der Opposition, Angela Merkel vom „Tunnelblick“ Schröders – und beide haben Recht

Reform, Reförmchen, Samenfädchen. Wie soll Schröder in diesem Klima eine große Rede halten?

aus Berlin JENS KÖNIG

Es ist schon bemerkenswert, dass die Politik, die ja eher als ein staubtrockenes Metier gilt, in diesen Wochen eine auffällige Neigung zu Körperflüssigkeiten hat. Vor allem die Substanzen Blut, Schweiß und Tränen haben es ihr angetan. Landauf und landab fordern Politiker der Regierung wie der Opposition, der Kanzler möge endlich eine Rede halten, in der er der Bevölkerung die bittere Wahrheit verkündet, dass es in Deutschland in den nächsten Jahren nicht um mehr Wohlstand, sondern um harte Einschnitte geht. Und da seit jener berühmten Rede, die der britische Premierminister Winston Churchill im Mai 1940 gehalten hat, die Begriffe Blut, Schweiß und Tränen als Synonym für entbehrungsreiche Zeiten gelten, fordern von Gerhard Schröder so viele, er solle doch auch endlich eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede halten.

Blut? Schweiß? Tränen? Natürlich ist das nichts anderes als moderner Krisenkitsch. Hinter diesem Gerede wird aber deutlich, wie groß die Sehnsucht in Deutschland nach klaren Worten des Regierungschefs offenbar ist. Bemerkenswert ist daran besonders, dass die Sehnsucht in der Partei dieses Regierungschefs, in der SPD, am größten ist. Sie vermisst in diesen Wochen des rot-grünen Durcheinanders am allermeisten klare Botschaften und eine straffe Führung.

Mehr noch, in den Reihen der Sozialdemokraten geht die Angst um. In den neuesten Umfragen steht die SPD bei 27 Prozent. Die Wahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar drohen zum Desaster zu werden. Schon wird der überraschend gut gestartete Superminister Wolfgang Clement in dem permanent überhitzten Medienkessel in Berlin als Nachfolger für einen angesichts zweier Wahlniederlagen resignierenden Gerhard Schröder gehandelt. So verzweifelt ist die SPD dann doch noch nicht – aber verzweifelt genug.

Also war für die gestrige Generaldebatte im Bundestag über die Haushalte 2002 und 2003 wieder mal eine große, ehrliche Rede des Kanzlers erwartet worden. Gewissermaßen der Auftakt zur Selbstbefreiung einer verzagten Regierungspartei. Bis Weihnachten müsse die negative Stimmung gedreht werden, heißt es in der SPD, dann könne man in den letzten vier Wochen des Wahlkampfes im Januar auch noch in Niedersachsen und Hessen alles reißen. Schröder hatte sich für seinen Auftritt, der ja endlich auch eine geistige Unterfütterung des ganzen Unternehmens Rot-Grün II liefern sollte, extra theoretischen Beistand gesucht. Der Soziologe Oskar Negt, 68, sowie die SPD-Opas Hans-Jochen Vogel, 76, und Erhard Eppler, 75, wurden um große Ideen gebeten. So viel zum Thema Generationengerechtigkeit in Kanzler-Reden.

Aber bevor Gerhard Schröder am Mittwoch auch nur ein einziges Wort sagen konnte, hatte der SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler eine weitere Körperflüssigkeit in den politischen Raum, nun ja, geträufelt. In einem seiner berüchtigten Rundumschläge beschimpfte Stiegler die von der Regierung höchstselbst eingesetzte Rürup-Kommission zur Reform der Sozialsysteme. „Professorengeschwätz“ nannte er ihre Vorschläge, mit denen sie sich bis zum Beginn ihrer Arbeit gefälligst zurückzuhalten hätte. Die Herren Professoren, so Stiegler, sollten die Sozialdemokraten „nicht länger mit ihrer Ejaculatio praecox beglücken“. Nun ist dieser lateinische Begriff nicht so eingängig wie das schöne deutsche Wort „Schweiß“, und er ist auch um einiges unappetitlicher. Aber am Mittwochmorgen wusste dann auch ein Nichtlateiner wie Schröder, dass sein Fraktionsvize von einem vorzeitigen Samenerguss gesprochen hatte.

So viel rentenpolitischer Sachverstand hatte dem Kanzler gerade noch gefehlt. Jetzt schien auch noch dem Letzten im Land klar zu sein, dass die SPD offenbar selbst nicht weiß, was sie eigentlich will. Heute Reform, morgen Reförmchen, übermorgen Samenfädchen. Wie soll der Kanzler in diesem intellektuell aufgeladenen Klima eine große Rede halten?

Da konnte es nur so kommen, wie es kommen musste. Schröder war kämpferisch, er sprach weitgehend frei, er war rhethorisch um Längen besser als bei seiner müden Regierungserklärung vor vier Wochen – aber der erwartete Befreiungsschlag war seine Rede nicht. Kein Blut, kein Schweiß, keine Tränen, aber vor allem auch keine großen Linien der rot-grünen Politik. Am Anfang ließ sich der Kanzler eine Viertelstunde lang zu weitgehend fruchtlosen Repliken auf Michael Glos, der rhetorischen Allzweckwaffe der CSU, hinreißen. Glos hatte dem Kanzler im Allgemeinen Unfähigkeit vorgeworfen und ihm im Speziellen vorgehalten, eine Blut-Schweiß- und-Tränen-Rede gar nicht halten zu können. Schröder, so Glos, könne nämlich nicht so gut reden wie Churchill. „Er kann ja noch nicht mal so gut Zigarre rauchen wie Churchill.“

Schröder nutzte diese Bösartigkeiten zu einer Generalabrechnung mit dem Politikstil, den die Union in diesen Wochen betreibt. „Inhaltsleere“, warf er ihr vor, „bodenlose Frechheiten“, „persönliche Diffamierungen“. „Außer dümmlichen Sprüchen“, so Schröder, „haben sie nichts, aber auch gar nichts zu bieten.“ Von diesen Angriffen hangelte sich der Kanzler so langsam zur Erklärung seiner Politik, sprach über Haushaltskonsolidierung und Rentenreform, um sich dann ganz plötzlich und unvermittelt in den Details der Gesundheitsreform und der Mittelstandsförderung zu verlieren. Schröder sprach von der „Regelung der Fallpauschalen“, von „Schwankungsreserven“, von „Beitragsbemessungsgrenzen“, und die Zuschauer auf der Besuchertribüne des Reichstages, die ja theoretisch Schröders Wähler sein können, verstanden wohl gar nichts mehr, als der Kanzler den bedeutungsschwer klingenden Satz „Basel II ist hilfreicher als Basel I“ von sich gab. Klare rot-grüne Botschaften? Das war geheimes Regierungswissen.

Nur an einer Stelle von Schröders Rede glaubte man einen Moment lang, jetzt werde er zum großen Schlag ausholen. Er richtete seine Worte auch an den einen oder anderen in den eigenen Reihen, sagte der Kanzler drohend, und man dachte schon, jetzt bekommen die Herren Müntefering, Scholz und Stiegler ihr Fett weg, die ja in den letzten Tagen allesamt durch Reformeifer der ganz sozialdemokratischen Art aufgefallen waren. Aber nein, Schröder erklärte, dass die Hälfte der 17 Millionen Rentner in Deutschland mit 500 bis 1.000 Euro im Monat auskommen müsste. Es könne ja wohl nicht sein, fügte er hinzu, dass unter dem Stichwort Generationengerechtigkeit über Kürzungen bei diesen Leuten nachgedacht werde. Das seien allesamt Menschen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden sind.

Das war ein Kanzler-Rüffel der allerersten Sorte. Er kam tief aus seinem sozialdemokratischen Herzen.

So ging die angeblich große Rede dahin. Es war Angela Merkel vorbehalten, dem Kanzler einen Stoß zu versetzen, der ihn getroffen haben wird. Er leide unter einem „Tunnelblick“, sagte die Frau Oppositionsführerin zum Herrn Bundeskanzler. Er verstehe sein Volk nicht mehr.

Und da schaute Schröder so, als sehe er am Ende seines Tunnels nicht mal mehr Licht.