Aufbruch Ost

Die öffentliche Debatte zur bevorstehenden Erweiterung der EU beschwört vor allem die Gefahren der Armutsmigration. Dabei birgt die Erweiterung der Europäische Union Chancen für ganz Europa

von SABINE HERRE

Es war der tschechische Dichter und Diplomat Jiří Gruša, der vor kurzem nicht die Osterweiterung selbst, wohl aber den Begriff dafür in Frage stellte. Man habe es doch wohl mehr mit einer Westausdehnung der Europäischen Union zu tun, und das sei auch gut so. Oder wolle der Westen riskieren, dass der Osten sich bei ihm breit mache? Doch hier irrt der Dichter. Ein bisschen Osterweiterung täte uns Westeuropäern ganz gut. So weit die These.

Zwölf Jahre nach dem Ende der uns vertrauten Welt, kam – am 11. September 2001 – ein neues Ende. Die bunten Bilder von Mauerfall und Revolte, die bis dahin unsere Vorstellung vom neuen Europa bestimmt hatten, wurden abgelöst durch ein, ja nur ein einziges Bild. Was konnten die mit ihren Hausschlüsseln gegen die realsozialistischen Herren lärmenden PragerInnen gegen ein Passagierflugzeug, das sich in einen Hochhausturm bohrt, ausrichten? Ganz andere Dimensionen taten sich auf. Zwar erlebt die EU jetzt die größte Erweiterung ihrer Geschichte. Doch die geht fast lautlos vonstatten.

Das hat aber auch damit zu tun, dass die Euphorie, der sich Europa um die Jahreswende 1989/90 hingab, viel zu schnell in sich zusammenfiel, als auf unseren Bildschirmen völlig unerwartet Panzer auftauchten, die durch die slowenischen Voralpen fuhren. Damals schien es, als würden die Kriege auf dem Balkan erneut eine Zeitenwende markieren, und wer Essays aus dieser Zeit liest, spürt den abgrundtiefen Pessimismus. Von einem Bürgerkrieg ist die Rede, von unzähligen Scharmützeln, in dem sich die unabhängig gewordenen Nationen nun gegenseitig abschlachten würden. Mit diesem Europa wollten wir nichts zu tun haben.

Heute wissen wir, dass viele, aber eben bei weitem nicht alle diese Prophezeiungen wahr geworden sind. Ja, dass vieles besser als erwartet verlief. Die Slowaken zum Beispiel, gerade noch an den Pranger gestellt als nationalistische, gar faschistische Zerstörer der Tschechoslowakei, haben vor wenigen Wochen die erste demokratische Regierung ihres Landes seit mehr als sechzig Jahren bestätigt. Nirgendwo ist die Zustimmung zur EU so hoch wie in diesem jüngsten Beitrittsstaat der Union. Und Estland, ein halbes Jahrzehnt gelähmt durch den Streit mit der russischen Minderheit, hat sich zum Mekka der Informationstechnologie des Ostseeraums entwickelt. In der alten Hansestadt Tallinn machen Schweden mit Letten, Russen mit Deutschen gute Geschäfte wie vor fünfhundert Jahren.

Von all dem wird im Westen nur wenig wahrgenommen. Der Osten interessiert uns allenfalls als Ort des Chaos, von dem wir uns noch immer abgrenzen können. Als Ort der Selbstbestätigung: So schlecht geht es uns ja gar nicht! Reisen wir nach Warschau, achten wir nicht so sehr auf die neuen Hochhäuser internationaler Investoren im Zentrum, sondern mehr auf die Armut in den Vorstädten. Besuchen wir Budapest, sind wir fast erfreut, dass dieser Aufzug nicht funktioniert, jener Kellner unhöflich ist.

Europa hat fast keine Grenzen mehr, doch grenzenlos ist auch unser Unwissen über das neue, das östliche Europa. Zwar befürworten 68 Prozent der EU-BürgerInnen die Erweiterung, doch fragt man danach, wer der Union beitreten wird, kann über die Hälfte kein einziges Beitrittsland nennen.

Wenn wir dann tatsächlich einmal über die Osterweiterung reden, werden Klischees bemüht und Ängste geschürt. Als bei einem Forum eines deutschen Fernsehsenders in Warschau eine Diskussion über die Agrarpolitik mit Bildern eines mit Heu beladenen Pferdegespanns eingeleitet wurden, konnten sich die Polen ironische Anmerkungen über das Niveau der deutschen Gäste nicht verkneifen.

Die einzige wirklich öffentliche Debatte über die Osterweiterung beschäftigte sich nicht zufällig mit der vermeintlichen Welle von Armutsemigranten aus Polen und Tschechien. Hier meinte Bundeskanzler Schröder gegen seinen späteren Herausforderer Stoiber mit der Forderung „Erst mal Grenzen zu“ punkten zu können.

Natürlich, in Sonntagsreden holen wir den Osten heim. Preisen Handel und Wandel und die Frieden stiftende Wirkung für unseren so kriegerischen Kontinent. Doch alle Begründungen für die Notwendigkeit der Erweiterung bleiben seltsam blass. Nicht einmal eine richtige Bezeichnung haben wir für das, was sich nun vollzieht.

Den Begriff von der „Rückkehr nach Europa“ etwa prägte Václav Havel noch in den Tagen der „samtenen Revolution“. Doch das war das Wort eines Dramatikers, der plötzlich Politik machen musste. Denn natürlich haben auch fünfzig Jahre kommunistischer Herrschaft die tausendjährige europäische Tradition Böhmens nicht zerstören können. Romano Prodi, der EU-Kommissionspräsident, spricht dagegen von der „Wiedervereinigung“ Europas. Das klingt ein bisschen wie eine Steigerung der Wiedervereinigung Deutschlands, aber so richtig vereinigt war Europa eigentlich nie. Im Gegenteil. Der Historiker Karl Schlögel schließlich bezeichnet den Prozess der Erweiterung als „Neukonstituierung“ Europas. Allzu viel Neues wird freilich nicht konstituiert.

Wie bei der Wiedervereinigung Deutschlands handelt es sich ganz im Sinne Grušas um eine Westausdehnung. Die Beitrittsstaaten müssen die 75.000 Bestimmungen des Aquis communitaire übernehmen, eine andere Wahl haben sie nicht. Beim Versuch, die Bedeutung all dessen zu erfassen, was wir derzeit erleben, bleibt man zuletzt beim Begriff Europa selbst hängen. Immer lauter wird inzwischen eine Grundsatzdebatte über die „Finalität“ der kontinentalen Kooperation gefordert. Viele denken hierbei geografisch und meinen so eine einfache Lösung gefunden zu haben für die beiden größten Probleme, die auf die EU nun zukommen: eine Mitgliedschaft der Türkei und irgendwann einmal Russlands. Doch die Geografie ist trügerisch. Nimmt man sie als Maßstab, müsste die Union auch den einmal unabhängigen Kaukasusstaat Tschetschenien aufnehmen.

Andere wollen, am Vorabend der Erweiterung, nun plötzlich diskutieren, wofür wir eine EU eigentlich brauchen. Die neue Größe erschreckt und verunsichert. Warum sollen litauische Beamte über die Olivenernte in Portugal entscheiden? Doch die Debatte über die Aufgaben der Union wird seit acht Monaten intensiv im Konvent geführt, und noch nie zuvor waren die Möglichkeiten der Bürger so groß, sich an einer grundsätzlichen Entscheidung der Union zu beteiligen. Man muss all die Diskussionsforen nur wahrnehmen.

Zum anderen aber wird auch das Ergebnis des Konvents, die Verfassung, keine Bibel sein. Sie wird verändert werden, vielleicht schon in wenigen Jahren. So war die EU nie eine Organisation mit konstanten Inhalten und Formen, sondern ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt.

Gibt es also gar kein historisches Ereignis namens Osterweiterung? Sicher ist: Auf der Ebene des Regierens und Verwaltens der EU wird sich nicht allzu viel ändern. Natürlich, die neuen Sprachen, das Ungarische oder das Lettische, sie werden den Dolmetscherdienst Brüssels sprunghaft wachsen lassen. Doch das ist nur vordergründig. Tatsächlich sind Osteuropas EU-Eliten mindestens so vielsprachig wie die der alten Mitgliedsstaaten. In den nie enden wollenden Jahren der Beitrittsverhandlungen haben sie den EU-Jargon erlernt, sie kennen ihren Aquis communitaire.

Dass nun 25 Regierungschefs um den Verhandlungstisch sitzen, macht dieses Verhandeln sicher nicht leichter. Doch auch mit fünfzehn war es nicht einfach, auch ohne Erweiterung ist eine Reform notwendig geworden. Selbst der Vorwurf, die gerade unabhängig gewordenen Staaten des Ostblocks würden mehr auf den Erhalt ihrer nationalen Souveränitätsrechte und weniger auf die Stärkung der Gemeinschaft setzten, ist unbegründet. Mit Ausnahme Polens zählen alle Neumitglieder zu den eher kleinen EU-Staaten, und diese brauchen eine starke Kommission zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen die „Großen“ wie Deutschland oder Frankreich.

Und dann gibt es ja auch noch die Ansicht, dass die EU durch eine ganz besondere Eigenschaft der Osteuropäer spontaner werden könnte – die Eigenschaft nämlich, das Chaos zu meistern und im letzten Augenblick doch noch Lösungen zu finden. Das freilich kann die EU wirklich brauchen.

Natürlich wird sich immer ein polnischer Bauernführer finden, der zum Sturm auf Brüssel bläst. Was aber nichts daran ändert, dass die Bauern Osteuropas Gewinner der EU-Erweiterung sind. Nach den bisherigen Planungen werden sie in rund zehn Jahren dieselben Direktbeihilfen bekommen wie ihre westlichen Kollegen. Die Angleichung des Lebensstandards zwischen Ost und West, die alle Bürger betrifft, soll laut Berechnungen dagegen mindestens zwanzig Jahre dauern.

Profitieren werden von der Erweiterung aber auch die Menschen in den östlichen Provinzen. Während bisher die Städte erblühten, wird die Förderung aus den Brüsseler Fonds nun den zurückgebliebenen Regionen zugute kommen. Fachleute für Kläranlagen, Straßenbau und Dorferneuerung werden beste Geschäfte machen.

Die Erweiterung nach Osten bedeutet für den Westen – darum kann man nicht herumreden – Verlust und Verzicht. Verlust überall dort, wo die Erweiterung auch erweiterte Konkurrenz bedeutet. Doch erstens haben sich Bauunternehmer und Transporteure bereits in den vergangenen Jahren auf diese Situation vorbereiten können. Und zweitens hat die Öffnung der Märkte bisher vorrangig dem Westen genutzt. Jetzt profitiert eben auch mal die andere Seite. Verzichten müssen viele unterentwickelte Gebiete auf EU-Strukturhilfe. Doch auch hier gilt: Viele von ihnen, wie zum Beispiel in Irland, haben davon so sehr profitiert, dass sie inzwischen zu den Reichen in Europa zählen.

Von Verlust und Verzicht gleich zweifach betroffen sind Ostdeutschlands Grenzregionen. Unzählige polnische Händler werden ihre Niederlassungsfreiheit nutzen und sich diessseits von Oder und Neiße ansiedeln. Wer die Region kennt, ahnt, was das bedeutet. Denn schon jetzt sind die Unterschiede überdeutlich. Auf der einen Seite, im Westen, Niedergang, im besten Fall Stagnation. Auf der anderen, im Osten, Aufbruch. Aus Verkaufstischen für Heidelbeeren wurde ein Kiosk für Bier und Wurst. Aus dem Kiosk ein Lebensmittelgeschäft. Nicht alle Unternehmergeschichten gehen so, aber viele.

Der Vorteil der osteuropäischen Unternehmensschicht ist, dass sie sich ganz allein auf sich verlassen müssen. Kein großer Bruder weit und breit, und den Glauben an eine Unterstützung durch den Staat haben sie lange vor der Wende verloren. Wer damals kreativ war, weil er es sein musste, ist es auch jetzt. So erleben wir ein Paradox: Wir im Westen, die wir immer so stolz waren auf unsere allumfassende Freiheit, vertrauen heute in vielen Dingen viel mehr auf den Staat, als jene, die jahrzehntelang von ihm gegängelt wurden.

Sicher, diese Unternehmer bilden nicht jene Zivilgesellschaft, wie sie sich die Dissidenten um Václav Havel einst erträumten. Zwar gibt es in den osteuropäischen Staaten inzwischen zehntausende NGOs, aber eben keine gesellschaftliche Bewegung. Doch auch in der Bundesrepublik hat es vier Nachkriegsjahrzehnte gedauert, bis Friedens- und Umweltgruppen stark wurden.

Die Zentren des Aufbruchs finden sich vor allem in den Städten. In Prag oder Riga gibt es eine Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die sich in Aussehen und Auftreten in nichts von Gleichaltrigen im Westen unterscheiden. Und doch sind sie anders. Gerade erwachsen geworden, sahen sie die Möglichkeit zur ganz großen Karriere – überall dort, wo es galt, Neues zu schaffen. Ob nun als Unternehmer, im diplomatischen Dienst oder beim Privatfernsehen. Was im Laboratorium Osteuropa an Dauerhaftem wachsen wird – und welchen Nutzen der Westen daraus zieht –, werden die nächsten zehn Jahre zeigen.

SABINE HERRE, 39, ist taz-Redakteurin für das Thema Reform und Erweiterung der Europäischen Union