Im Kosmos der Geräusche

Hinlegen, zuhören, fantasieren: Socìetas Raffaello Sanzio gastieren mit ihrem Hörmärchen „Der Däumling – Buchettino“ am Deutschen Schauspielhaus

Kindermärchen dürfen offenbar ziemlich unheimlich sein. Schon Hänsel sollte in den Backofen, Aschenputtels Schwestern schnitten sich für den Prinzen die Zehen ab, von den Grausamkeiten bei Harry Potter mal ganz zu schweigen. Doch womöglich sollte man Märchenfiguren auch gar nicht verharmlosen und Kindern so die schrecklichen Ereignisse bis zu ihrem erlösenden Ende vorenthalten. Dieser Auffassung ist die italienische Theatergruppe Socìetas Raffaello Sanzio. Ihr Däumling – Buchettino nach Charles Perrault hatte am Freitag am Schauspielhaus Premiere. Und da geht es unter der Regie von Chiara Guidi mitunter reichlich heftig zu.

Die Grundmotive sind Armut, das Verlassenwerden von den Eltern und die so erzwungene Selbständigkeit. Wie später Hänsel und Gretel werden die Kinder im Wald ausgesetzt. Der Däumling ist zwar ein winziges und stilles Kind, aber eben das schlaueste. Durch viele Gefahren hindurch bringt er die bettelarme Familie zu Geld und die Geschwister zurück zu ihren Eltern.

Die Inszenierung ist allerdings kein gewöhnliches Theaterstück. Auf der Probebühne ist ein extra Kasten errichtet, den das Publikum durch einen roten Vorhang betritt. Drinnen herrscht eine altertümliche Stallatmosphäre mit der funzeligen Glühbirne als einziger Lichtquelle. Statt nach Mist riecht es jedoch nach Eukalyptus. Säuberlich aufgereiht wie im Märchen stehen Bettchen bereit. Hier machen es sich alle gemütlich, ziehen die Schuhe aus und schließen die Augen. Denn was nun beginnt, ist Theater zum Zuhören. Eine richtige Märchenstunde – aber keine zum Einschlafen.

Unter der Glühbirne sitzt die Erzählerin Monica Demuru auf einem Schemel. Ihre Stimmenvielfalt vom lispelnden Däumling über die verzagte Mutter und den knarzigen Vater bis hin zum beängstigenden Menschenfresser ist beeindruckend. Die Illusion, wirklich mitten in der Geschichte zu sein, entsteht jedoch vor allem durch die Geräusche um den Erzählkasten herum: Mal scheppert es in der einen Ecke, mal raschelt es in der anderen. Der Regen prasselt aufs Dach, kleine Füßchen trappeln. Und wenn der Menschenfresser grauenhaft lacht, beben die Wände bis die Glühbirne tanzt.

Spannend, fantasievoll, blutrünstig, aber mit einem guten, moralischen Ende: eine vortreffliche Mischung für alle, die das Überangebot an visualisierter Action satt haben. Liv Heidbüchel

weitere Vorstellungen (ab 8 Jahren, in Begleitung Erwachsener ab 6 Jahren): heute, 11.–15., 17.–20. Dezember, jeweils 9.30 und 12 Uhr, Schauspielhaus