Boccia on Ice statt Curling

Das biedere Eisstockschießen befindet sich auf dem beschwerlichen Weg zur Trendsportart. Richtige Begeisterung will im Sony-Center aber nicht aufkommen

Es gibt Sportarten, die haben einfach nicht das Zeug dazu, trendy zu werden. Und es ist sicher kein Wunder, dass Disziplinen wie Faustball oder Rasenkraftsport die Jugendlichen nicht unbedingt in Massen anlocken. Eisstockschießen gehört sicher auch zu diesen trendresistenten sportlichen Betätigungen. Wer schon einmal im Winter an einem zugefrorenen See in Bayern den oft nicht ganz schlanken, meist älteren Herren zugesehen hat, wie sie über Stunden immer wieder auf und ab marschieren und ab und zu einmal einen runden, flachen Stein mit einem Henkel über das Eis schleudern, der könnte versucht sein, zu bestreiten, dass es sich bei Eisstockschießen überhaupt um Sport handelt. Da verwundert es schon, dass ausgerechnet die Damen und Herren, die für die Vermarktung der Freifläche im Sony-Center zuständig sind, auf die Idee gekommen sind, die gemächliche Wintersportart als Event unter dem gläsernen Zeltdach am Potsdamer Platz zu präsentieren.

Ohne einen feschen Anglizismus ist ein derartiges Unterfangen nicht vorstellbar, und so wurde aus Eisstockschießen „Boccia on Ice“. Das hat durchaus seinen Sinn, denn ähnlich wie bei der Lieblingssportart Konrad Adenauers geht es darum, die Spielgeräte möglichst nahe an einem Zielgegenstand zu platzieren. Doch auch die flotteste Umbenennung macht den bayerischen Volkssport nicht zur Tempodisziplin. Immerhin sind die zwei 25-Meter-Bahnen in den Abendstunden so gut wie immer ausgebucht. Doch so richtig Stimmung will meistens nicht aufkommen. Auch die Betreuer an den Bahnen, die den meist ahnungslosen Berlinern und Berlintouristen, die sich an den Eisstöcken versuchen, die Regeln erklären, sind ein wenig enttäuscht. „Gestern war eine Gruppe von 40 Leuten hier“, berichtet einer, „da ist auch nichts gekommen.“

Die Berliner tun sich einfach schwer mit der gemächlichen alpenländischen Freizeitbeschäftigung. Auch der Sportjargon dürfte für Berliner zu südländisch sein. Eine Mannschaft heißt „Moarschaft“ und das angesprochene Zielgerät „Daube“. Schon die Eisstöcke werden mit Befremden begutachtet. Auch verlangen die meisten Spieler nach einem Besen. Denn eigentlich würden die Nebenbeisportler vom Potsdamer Platz viel lieber Curling spielen. Die skurrile Sportart, die es bei Olympia vor allem wegen der launigen Berichterstattung zu einiger Berühmtheit gebracht hat, ist aber nichts für Anfänger. „Das ist viel zu aufwändig“, meint Karin Püttmann, die Pressesprecherin von Sony, gibt aber zu, dass man eigentlich auch viel lieber Curling angeboten hätte als Kulisse für den kleinen Weihnachtsmarkt im Glaspalast. Irgendwie sei man dann auf Eisstockschießen gekommen. Die Eisfläche wurde bestellt, und mit Hilfe des Berliner Eissportverbandes, der eine Unterabteilung für Stockschützen unterhält, wurden die Sportgeräte besorgt. Ansonsten spielen sportliche Erwägungen beim Ice-Boccia keine Rolle. Wahrscheinlich weiß man in der Konzernspitze nicht einmal, dass es dem Deutschen Eisstock-Verband gelungen ist, die Weltmeisterschaften 2012 nach Deutschland zu holen.

Vielleicht aber ist die Veranstaltung am Potsdamer Platz doch der erste Schritt zur Etablierung des Eisstocksports in der Hauptstadt. Dann müssten allerdings auch die Sportartikelhersteller auf den Zug aufspringen und beispielsweise Lodenhüte mit drei Streifen und spezielle Sportthermoskannen für das Zielwasser der Athleten, den Jagertee, entwickeln.

ANDREAS RÜTTENAUER