Willkommenes Gestern

Michael Jeismanns Angriff auf die Vergangenheit ist suggestiv. Nur die Vereinigung hat er dabei irgendwie übersehen

Die deutscheVergangenheit wirdzu einem globalenLehrstück

Von Friedrich Schlegel stammt die Feststellung, dass der Historiker ein rückwärts gewandter Prophet sei. Michael Jeismanns Essay „Auf Wiedersehen Gestern“ nimmt dieses gern als bloßes Paradoxon gelesene Aperçu ernst. Die „Dynamik von Historie und Gegenwart“ ist sein Thema. Indem er den sich verändernden Blick auf die Vergangenheit untersucht, will er Erkenntnisse über die Gegenwart und die Konturen der Zukunft gewinnen.

Das ist ein heikles Unterfangen. Die Halbwertszeit von Gegenwartsdiagnosen ist gemeinhin kurz und verlängert sich auch nicht, wenn diese in der Spur von Helmut Schelsky alle paar Jahre eine neue Generation ausrufen: gestern die „89er-Generation“, heute die „Generation Golf“ und morgen wieder eine andere.

Gerade Historiker, zumal wenn sie dem Gestaltwandel gesellschaftlicher Meistererzählungen nachspüren, wissen um die zwangsläufige Begrenztheit des Zeitgenossenurteils: Jede Gegenwart tendiert dazu, sich selbst als Fluchtpunkt und Vollendung der hinter ihr liegenden Vergangenheit zu begreifen.

Diesem Problem versucht Jeismann mit dem Kunstgriff zu entgehen, dass er seine – und unsere – Gegenwart entgegen dem biografischen Beharrungswunsch nicht als Kontinuität, sondern als Zäsur beschreibt, als „einen Umbruch […], wie er nach Kriegsende nicht mehr erlebt wurde“. Seit einigen Monaten sind solche Überlegungen Allgemeingut geworden. Jeismann hat sein Buch aber bereits vor den Terroranschlägen auf die USA vom 11. September 2001 vollendet. Dieser Umstand gibt seinem Gedankengang besonderen Kredit.

Bei näherem Hinsehen trägt allerdings der von Jeismann diagnostizierte Umbruch vertrautere Züge als der Konflikt der Kulturen, in dessen Bann die Welt seit dem September letzten Jahres steht. Sein Blick beschränkt sich auf die Spannung zwischen Nationalität und Transnationalität im europäischen Kontext; „Auf Wiedersehen Gestern“ formuliert den Abschied von der nationalen Meistererzählung, das „Zerbrechen nationaler Geschichtsvorstellungen“ auf dem Weg zu einer neuen europäischen und darüber hinaus globalen Identität, zu einer neuen Weltinnenpolitik.

Dieser Europäisierung der Vergangenheit steht, so möchte man einwenden, nichts sperriger im Weg als der nationalsozialistische Zivilisationsbruch des Holocaust. Doch Jeismann argumentiert mit guten Gründen, dass die Epoche der Vergangenheitsbewältigung zu Ende ist: Nach dem Abschied von der Zeitgenossenschaft wirkt der aus früheren Kämpfen gegen das Vergessen bewahrte Gestus der Entlarvung ebenso verstaubt, wie der Umgang der politischen Klasse mit der NS-Zeit an Peinlichkeit verloren hat. Undenkbar, dass die Repräsentanten der Berliner Republik sich der Vergangenheit noch einmal so ungelenk und verkrampft stellen könnten wie einst Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg. Das neue, postnationale Deutschland habe sich, so Jeismann, vom Holocaust nicht dadurch befreit, dass es ihn marginalisierte oder aus dem kollektivem Gedächtnis entsorgte. Nein, im Gegenteil: „Nicht in der Absetzung, sondern in der Aneignung der Geschichte liegt der Schlüssel zum Verständnis der vereinigten Bundesrepublik.“

Auf der Grundlage dieses Befundes formuliert Jeismann seine provozierende These: Paradoxerweise und anders, als es die Akteure wollten, habe die gegen viel Abwehr durchgesetzte „Kultur des Schuldeingeständnisses“ nichts weiter als eine Distanzierung eigener Art bedeutet; nicht durch Vergessen werde die Vergangenheit wahrhaft erledigt, sondern durch Erweckung, und das Denkmal fixiert letztlich nur den Blick, der sich abwendet. Die Verlagerung der kulturellen Erinnerung von den Tätern hin zu den Opfern erfülle dieselbe Funktion wie die Verdrängung des spaltenden Kriegsgedenkens früherer Jahrzehnte zugunsten des einenden Holocaust-Gedenkens unserer Tage.

Mit diesem Wechsel erst werde die deutsche Vergangenheit zu einem globalen Lehrstück und zum Fundament einer europäischen Erzählgemeinschaft, in der der deutsche Sonderfall zum europäischen Anwendungsfall mutiert sei. Nicht zufällig seien nun auch die einstigen Gegner von Frankreich bis Dänemark sich bewusst geworden, dass sie selbst ebenso wenig frei von Kollaboration und Anpassung waren wie das nationalsozialistische Deutschland.

Viele Gedanken dieses so suggestiv wie assoziativ geschriebenen Essays bestechen, und doch mag man dem Autor nicht vorbehaltlos folgen. So irritiert, dass sein dem Wandel des Umgangs mit der Vergangenheit gewidmeter Essay allein auf das „Dritte Reich“ abhebt. Hat die Bundesrepublik im kulturellen Gedächtnis denn so gar keine nennenswerten Spuren hinterlassen? Und war da nach 1989 nicht auch noch eine zweite deutsche Vergangenheit zu bewältigen, die in den Augen der einen eine Art historischer Wiedergutmachung für die Fehler einer geschichtsvergessenen Zeit nach 1945 bringen sollte und in den Augen der anderen den klaren Blick für die Singularität von Auschwitz zu trüben drohte?

Dass es in den Neunzigerjahren eine überaus heftige und andauernde Debatte um den zukünftigen Ort der vergangenen DDR gegeben hatte, muss Jeismann völlig vergessen haben. Sonst könnte er nicht allen Ernstes behaupten, der Historikerstreit von 1986/87 um die Einzigartigkeit der „Endlösung“ sei der letzte innerdeutsche Kampf um die Vergangenheit und ihre Erinnerung gewesen.

Im Ganzen wirkt Jeismanns ihren Gegenstand immer neu umkreisende Argumentation eine Spur zu apodiktisch, und gelegentlich begeht sie auch die kulturhistorische Ursünde, dem Blick der Zeitgenossen entgegenhalten zu wollen, wie die Dinge sich „tatsächlich“ verhalten hätten. Nirgendwo trennt die Untersuchung systematisch zwischen staatlicher Vergangenheitspolitik, individueller oder kollektiver Erinnerung und professioneller Geschichtsschreibung; nicht selten verengt die Gedankenführung ihren Blick für den Wandel der Vergangenheitsaneignung auf die geschichtspolitischen Anstrengungen von Regierung und Bundestag.

Auch im Licht des 11. September wirkt manches nicht so, wie der Autor uns glauben machen will: Anders als noch im Kosovo-Krieg kommt etwa die Auseinandersetzung mit dem islamischen Terrorismus gänzlich ohne die Chiffre Auschwitz aus und die vermutete Universalisierung des Holocaust entpuppt sich vor diesem Hintergrund eher als zumindest temporäre Marginalisierung. MARTIN SABROW

Michael Jeismann: „Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen“, 214 Seiten, DVA, München 2001, 18,90 €ĽEine ungekürzte Fassung dieser Besprechung ist greifbar in dem Internet-Rezensionsjournal www.sehepunkte.de