Moderate Linke auf Schmusekurs

Heute besucht „Lula“, der designierte Präsident Brasiliens, die USA. Dabei geht es auch um das Verhältnis der Regierung Bush zur lateinamerikanischen Linken insgesamt

PORTO ALEGRE taz ■ Wenn George W. Bush heute den gewählten brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Washington empfängt, steht ein ursprünglich gar nicht vorgesehenes Thema auf der Tagesordnung: die Krise in Venezuela. Drei Wochen vor Lulas Amtsantritt könnte sie zum ersten Testfall seiner Außenpolitik werden.

Die ist zwar erst schemenhaft erkennbar, doch ähnlich wie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zeichnet sich ein pragmatisches Abrücken von früheren Positionen der Arbeiterpartei PT ab. Besonders deutlich wurde dies in der vergangenen Woche: In Guatemala trafen sich Vertreter der im „Forum von São Paulo“ versammelten lateinamerikanischen Linkskräfte und Beobachter aus aller Welt – insgesamt 800 Delegierte aus 48 Ländern. Das Forum geht auf eine PT-Initiative im Jahr 1990 zurück, galt aber lange als Debattierclub ohne viel Einfluss. Die Guerillaverbände Farc und ELN aus Kolumbien gehören genauso zum Forum wie die peruanische MRTA, Kubas KP und Nicaraguas Sandinisten.

Über die Schlusserklärung wäre es beinahe zum Eklat gekommen. Erst als viele Delegierte die Heimreise angetreten hatten, setzten sich die Brasilianer mit ihrer moderaten Version durch, in der die von Washington gewünschte gesamtamerikanische Freihandelszone FTAA nicht mehr rundum abgelehnt, sondern nur in ihrer vorgesehenen Form als „Annexionsplan“ kritisiert wird. Auch der mögliche Irakkrieg wird nicht mehr explizit verurteilt.

„Es wehen die Winde des Wandels“, heißt es in Bezug auf die Wahlsiege Lulas und des Linksnationalisten Lucio Gutiérrez in Ecuador. Der Neoliberalismus hat ausgedient – zumindest als zugkräftige Ideologie. Andererseits zeigt gerade das Beispiel Venezuela, dass Verbalradikalismus und innenpolitische Polarisierung im Stil des Hugo Chávez in eine Sackgasse führen. Sowohl Lula als auch Gutiérrez haben sich jüngst von dem autoritären Venezolaner distanziert.

Für Lula erscheint die oft abstakt vorgetragene Forderung nach einer stärkeren lateinamerikanischen Integration ebenfalls in neuem Licht. Nicht zufällig machte er seine erste Auslandsreise nach der Wahl zum Mercosur-Partner Argentinien – just zu einem Zeitpunkt, als das Handelsvolumen zwischen Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay fast wieder auf den Stand von 1990 gesackt ist. Vom Ausgang der Argentinienwahl im kommenden April wird abhängen, ob und wie das siechende Regionalbündnis wiederbelebt werden kann.

Anschließend flog Lula weiter nach Santiago. Dort erhielt seine Skepsis gegenüber der Gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA neue Nahrung: Der Sozialist Ricardo Lagos setzt nicht auf die ungewisse Zukunft des Mercosur, dem Chile als assoziiertes Mitglied angehört, sondern auf ein bilaterales Handelsabkommen mit Washington. Die USA drängen dabei auf die vollständige Liberalisierung des Telekommunikationssektors sowie auf weit reichende, einklagbare Freiheiten für ihre Investoren.

Das noch nicht unterschriftsreife Abkommen orientiert sich stark an den Regeln der Freihandelszone Nafta (USA, Kanada, Mexiko). Für die PT ist es ein eher abschreckendes Beispiel für die FTAA-Verhandlungen. Denn die USA machen keinerlei Anstalten, die zahlreichen Importzölle und die Milliardensubventionen für die eigene Landwirtschaft abzubauen, die bereits Millionen von lateinamerikanischen Bauern in den Ruin getrieben haben.

US-Handelsbeauftragter Robert Zoellick verkündete im Oktober, Brasilien müsse sich „zwischen der FTAA und der Antarktis“ entscheiden. Solch brüske Töne sind heute nicht zu erwarten. Vielmehr will sich Bush um jenen guten Draht zu Lula bemühen, der ihm zum noch amtierenden Staatschef Fernando Henrique Cardoso immer gefehlt hat. Unvergessen ist Cardosos Diagnose im April, nachdem die USA den Putschversuch gegen Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez begrüßt hatten: „Die Regierung Bush lernt noch, wie sie mit Lateinamerika umzugehen hat.“ GERHARD DILGER