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: Annett Gröschners BVG-Buch „Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus“

Das Hutgeschäft von Lotte Ulbricht

Das Fahren ist eigentlich immer das Schönste, das sinnlose und neugierige In-der-Gegend-Umherfahren macht in einer fremden Stadt, wenn man noch alles, wirklich alles interessant findet, am meisten Spaß.

Obwohl Annett Gröschner schon seit 1983 in (Ost-)Berlin wohnt, ist sie noch einmal „professionell“ auf dreizehn Buslinien, vier Straßenbahnen und einer Fähre durch die Stadt gefahren und hat ihr neues Buch „Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus“ daraus gemacht. Und weil Busfahren heißt, die Oberfläche der Stadt zu bestaunen, muss man natürlich ab und zu mal aussteigen, wenn man in die Tiefe gehen und wirklich etwas erfahren will. Auch das hat die Autorin getan, sie weiß viel über Berlin, und so ist ihr Buch auch ein gelehriges geworden.

In neunzehn Kapiteln können auch langjährige Städtebewohner noch einiges erfahren: dass der erste sowjetische Stadtkommandant Bersarin mit einer Harley verunglückte und deshalb posthum „Sowjetrocker“ genannt wurde und wo genau das Hutgeschäft von Lotte Ulbricht gewesen sein soll. Es klärt auf über die Geschichte des Fischerdorfs Stralau und die Steuermittelverschwendung in der Rummelsburger Bucht, erinnert an die Lichtreklame des Friedrichshainer Glühlampenwerks: Narva taghell.

Ihre Fahrten liefern Momentaufnahmen, die, wie der Name sagt, für diesen Moment gelten und im nächsten schon passee sein können. So residiert in „Hier beginnt die Zukunft“ der Kanzler noch im Staatsratsgebäude, sieht das Velodrom noch der Vollendung entgegen, wird im „Maria am Ostbahnhof“ noch getanzt, über den Abriss des Ahornblatts an der Leipziger Straße noch diskutiert. An der Oberbaumcity, wo heute die insolventen Firmen schon wieder ausziehen, wird noch gebaut, und aus dem Plänterwald, wo seit Jahren die Fahrgeschäfte friedlich vor sich hinrosten, dringt noch das Kreischen der Achterbahnfahrerinnen herüber.

Gerade dass es an manchen Stellen schon wieder veraltet ist, macht dieses Buch so charmant: Berlin, wat haste dir verändert, und was ist in der fast schon vergessenen allerjüngsten Vergangenheit alles passiert!

Obwohl die fahrende Stadtschreiberin vor allem Linien beschreibt, in denen soziale, kulturelle und politische Grenzen überschritten werden, obwohl sie sich so bemüht hat, der neuen Mitte, dem Regierungsviertel, dem trendy Berlin zu entgehen, dass man manchmal das Gefühl hat, sie fahre absichtlich an die traurigsten, hässlichsten Orte der Stadt – obwohl Annett Gröschners BVG-Buch vor Detailfülle und Wissensvermittlung strotzt, ist es recht kurzweilig zu lesen. Das liegt an seiner literarischen Qualität. Aus Beobachtungen, Werbeplakaten, Gesprächsfetzen, Graffiti und Erinnerungen wird der Text der Stadt montiert. Sie zitiert Flanierkollege Franz Hessel, bezieht sich an passender Stelle auf Döblins „Berlin Alexanderplatz“, lässt fröhliche Rheinländerinnen, Rentnerpaare und Jugendliche zu Wort kommen.

Zugegeben, manchmal wirkt ihre Lust am Busfahren leicht zwanghaft, werden ihre Beschreibungen ein wenig betulich: „Wo ist hier noch Platz für Kinder?“, fragt sie bei einer Fahrt durchs Zentrum – offensichtlich trauert sie ein wenig um die anarchistische Zeit nach 1989. Aber schließlich muss jeder literarische Großstadtflaneur etwas beleidigt Arrogantes haben, das bringt der ewig passive Beobachterstatus einfach mit sich.

CHRISTIANE RÖSINGER

Annett Gröschner mit Arved Messmer (Illustrator): „Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. Unterwegs in der Berliner Verkehrsgesellschaft“. Berlin Verlag 2002, 215 S., 14,90 €