Das Schweigen umkreisen

Das Tschuwaschische durch Übersetzungen bereichert: Der Lyriker Gennadij Ajgi liest, unterstützt vom Kontrabassisten Alexander Suslin, der Gubaidulina-Vertonungen spielt, im Literaturhaus

von PETRA SCHELLEN

Er drischt die Verse in die Landschaft hinein. Agiert völlig frei-metrisch, presst Fuge um Fuge in die Landschaft, als wolle er sie zwingen preiszugeben, wie irgendein Gott sie gemeint hat. Zeichen um Zeichen sucht der 1934 geborene tschuwaschische Lyriker Genndij Ajgi in seinen Gedichten zu enthüllen – mit einer Johannes Bobrowski vergleichbaren Wortmagie, die das Schweigen umkreist.

Eine starke Lyrik, nur mittelbar beeinflusst von „folkloristischen“ tschuwaschischen Gesängen, die Ajgi in verschiedene Sprachen übersetzte: Weiterentwickelt und verkantet hat er in Zwetajewa-Manier den Rundgesangs-Rhythmus tschuwaschischer Beschwörungen. Vom französischen Symbolismus beeinflusste Verse entstanden daraufhin in den Sechzigern und Siebzigern, nachdem man Ajgi 1958 aus dem Moskauer Literaturinstitut ausgeschlossen hatte. Die Gründe: seine als „religiöse Propaganda“ gedeuteten Übersetzungen tschuwaschischer vorchristlicher religiöser Texte sowie seine Freundschaft mit Boris Pasternak, der dem Regime als konterrevolutionär galt.

Harte Zeiten liegen hinter Ajgi, der heute Abend im Literaturhaus liest. Doch als „Dissident“ verkaufte er sich nie. Und obwohl er inzwischen als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Russlands gehandelt wird, erschien erst 1991 eine russische Werkausgabe.

Zur Gattung der Turksprachen gehört das für Ajgi so prägende Tschuwaschische; rund eine Million Menschen – 68 Prozent der dortigen Bevölkerung – sprechen es in der Tschuwaschischen Republik an der mittleren Wolga. Eine weitere Million Tschuwaschen lebt in anderen GUS-Republiken. Vermutlich einziger Abkömmling des Altbulgarischen, lässt sich das Tschuwaschische letztlich auf sarmatisch-skythische und finno-ugrische Einflüsse zurückführen.

Wurzeln, denen Ajgi nur mittelbar verhaftet blieb: Pasternak habe ihn 1960 ermutigt, russisch zu schreiben, sagt Ajgi, der sich lange als „tschuwaschischen Autor, der russisch schreibt“, bezeichnete. Doch inzwischen „ist es mir gleich, ob man mich für einen russischen Dichter tschuwaschischer Herkunft hält oder für einen Tschuwaschen, der russisch schreibt. Mein Auftrag ist das Schreiben.“

Pathetisch wirkt, was Ajgi, dessen Verse teils von der tatarisch-stämmigen Sofia Gubaidulina vertont wurden, äußert. Von tiefer Religiosität durchdrungen sind auch Ajgis Gedichte, die in den Sechzigern und Siebzigern Haiku-artige Kargheit atmen. Das weiße, farblose Licht – die Vorstufe aller Farben – ist für ihn zentrales Motiv. Ein Gedanke, den Ajgi beim Suprematisten Kasimir Malewitsch fand. „In der Natur gibt es Helligkeit, nicht Farbe. Aber Helligkeit kann sich im Nu in Farbe verwandeln“, sagt Ajgi, dessen Übersetzungen – er übertrug moderne französische Gedichte ins Tschuwaschische und edierte 1982 eine englischsprachige Anthologie tschuwaschischer Lyrik – mit dem Petrarca-Preis und dem der Académie Francaise bedacht wurden.

Im Ausland geschätzt, blieb er in Russland allerdings lange unbekannt: Ab 1958 griff das über ihn verhängte Publikationsverbot, das sich durch die fortbestehende Abwehrhaltung der Verlage nach 1989 um weitere zehn Jahre verlängerte. In Polen erschien 1961 die erste Ajgi-Anthologie – eine Tatsache, die ihm in der Sowjetunion schadete, wurden seine Verse doch als eigenständig, nicht aber als „sowjetisch“ empfunden. Er verlor seine Moskauer Aufenthaltsgenehmigung, suchte Zuflucht im Heimatdorf, war dort auch nicht sicher, kehrte illegal nach Moskau zurück, um ein Jahr lang auf Bahnhöfen zu übernachten. „Untergrund“-Künstler um den Maler Wladimir Jakowlew seien es gewesen, die ihn aus der Isolation geholt hätten, berichtet Ajgi.

Doch Politisch-Persönliches gibt Ajgi nur zögerlich preis. Er will sich nicht zum Opfer stilisieren, sondern lieber über Lyrik reden. Natürlich sei er von Baudelaire beeinflusst, selbstverständlich habe er Majakowski, dessen Werk er von 1961 bis 1969 am Majakowski-Institut edierte, eingesogen. Doch er will sich nicht auf Vorbilder festlegen lassen, die immer nur etwas hinzufügten zu dem, was er aus der tschuwaschischen Tradition bezog – die er erst mit der Zeit schätzen lernte. „Aber irgendwann habe ich verstanden, dass dies etwas Bewahrenswertes ist.“ Und er geht noch weiter: „Poesie ist für mich eine Art von sakraler Handlung.“ Lyrik sei etwas, das für sich stehe, nichts, das auf etwas anderes verweise oder gar pädagogisch wirke. Tatsächlich sucht er in seinen Gedichten Wort und Zeichen einander anzunähern, wenn er einem Text ein gezeichnetes christliches Kreuz einbeschreibt, das die Worte zentrieren soll.

Doch in den letzten Jahren scheint sein Vertrauen ins einzelne Wort gewichen: Fast geschwätzig wurden seit den Achtzigern seine Texte, deren jüngste auf deutsch edierte allerdings von 1995 stammen, sodass sich hier nur bedingt urteilen lässt. Trotzdem: die in den Siebzigern so bezwingende Verfugung von Lapidaria, Konkreta und Abstrakta nimmt in den jüngeren Texten manierierte Formen an und bläht den Wortanteil deutlich auf.

Eine irritierende Entwicklung auch deshalb, weil Ajgi diese Methode selbst brandmarkt: „Die jungen Dichter beschäftigen sich mit der gegenständlichen Welt, und es kommen in der Poesie so viele Gegenstände vor, die es womöglich in wenigen Jahren nicht mehr gibt.“ Man errät es schon: Urban werden Ajgis Gedichte nie sein – und hier könnte ein Vermittlungsproblem bezüglich westlicher Leserschaft liegen, die oft wenig geneigt ist, sich mit Geographie und Geologie kleiner Ex-Sowjetrepubliken zu befassen.

Fraglich ist auch, ob der an Landschafts- und Artenkonsum gewöhnte Westeuropäer die Anstrengung würdigen kann, die die Übersetzung zeitgenössischer Literatur ins archaische Tschuwaschische bedeutet. „Ich arbeite bewusst an Übersetzungen moderner schottischer und schwedischer Poesie in die tschuwaschische Sprache, die für das Tschuwaschische ganz unvorstellbar erscheint. Aber ich denke, die Sprache braucht so etwas, damit die Dichter sich weiterentwickeln. Die Sprache wird nicht weiterexistieren, wenn sie sich nicht auch Neues aneignet.“

Gennadij Ajgi: Ausgewählte Werke, 2 Bde, Wien: edition per procura 1995/1998. 46,50 Euro.

Soiree mit Gennadij Ajgi, Sofia Gubaidulina und dem Kontrabassisten Alexander Suslin, der von Gubaidulina vertonte Ajgi-Gedichte spielt: Donnerstag, 12. Dezember, 20 Uhr, Literaturhaus