Die Geschichten des Blicks

Vielfältig wie ihre Strömungen sind die Beziehungen zwischen der subversiven Form des Künstlerbuchs und der Fotografie als ihrem bevorzugtem Werkstoff: Die Ars photographica im Museum Weserburg zeigt sie in enzyklopädischer Breite

Die Praxis hat dem Foto keine andere Wahl gelassen. Spätestens seit 1887 der Kleinbildrollfilm aufeinander folgende Aufnahmen in der Chronologie ihres Entstehens festhält und die Zahl der nötigen Abzüge vom Negativ in die Höhe schnellen lässt, sind Lichtbildner gezwungen, die fixierten Augenblicke zu ordnen: Sie zu beschriften, sie in Reihen, Sequenzen, Serien zu fassen, sie anzutexten. Und in Alben aufzubewahren. Sprich: Zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen.

Das ist die wohl wichtigste formale Voraussetzung für die Genese der so genannten Künstlerbücher. Grob und ein wenig ketzerisch gesagt sind diese nämlich nichts anderes als für die Massenpublikation zurecht gemachte Foto-Alben.

Rätselhaft ist deshalb am ehesten, warum die Kunstform erst in den späten 50-er Jahren entsteht. Oder gäbe es Vorläufer? Bücher mit Lithografie-Sammlungen könnten nicht dazu gezählt werden, betont Anne Thurmann-Jajes. „Die folgen einem viel bibliophileren Impuls.“ Am ehesten, so die Kunsthistorikerin weiter, gebe es Vergleichbares in den Avantgarde-Bewegungen. „Hinter dem Künstlerbuch steht auch der subversive Impuls, Kunst zu erschwinglichen Preisen zu machen.“

Sie muss es wissen: Die Kunsthistorikerin leitet das am Museum Weserburg angesiedelte Studienzentrum für Künstlerpublikationen und hat die Ars photographica kuratiert – mit der seit Anfang Dezember das Mutterhaus bespielt wird. Das Konzept der Ausstellung schrammt allerdings knapp an der Tautologie vorbei: Sie widmet sich der Wechselwirkung zwischen dem seit den 70-ern des vergangenen Jahrhunderts florierenden Genre und seinem Leib- und Magen-Werkstoff – der Fotografie. Zusammenhang, den eine Künstlerbücher-Schau nur schwerlich ausblenden könnte, bildet er doch die zentrale Struktur der Gattung.

Ganz auf ihn zu fokussieren, wäre folglich redundant – es sei denn er würde in den Plural gesetzt. Und genau das tut die Ars photographica mit Nachdruck: In enzyklopädischer Breite zeigt sie die vielfältigen Strömungen innerhalb der Kunstform.

Sache jedes einzelnen Künstlers nämlich ist es, zu klären, in welchem Verhältnis das einzelne Bild zur Reihe steht. Bewahrt es seine Autonomie? Wird es Teil einer Erzählung?

Zu den radikalsten Antworten zählen die systematischen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, die Typologien von Architektur frappierend sichtbar machen: „Fachwerkhäuser des Siegener Industriegebiets“ etwa zeigt nichts anderes, als der Titel verheißt. In der gleichformatigen Synopse erhalten die lakonischen Aufnahmen den Charakter eines Illustrierten-Rätsels: Erkennen Sie den Unterschied? Weitaus irritierender wirken die Abbildungen, wenn der Betrachter sie sich selbst, Seite für Seite, vor Augen führt: Wäre das 100 Mal dasselbe Haus, nur eben ganz anders? Oder jeweils ein anderes Haus, nur eben das selbe? Die Differenz von Ähnlichkeit und Identität, feste Größe der Wirklichkeit, gerät aus den Fugen.

Derselben Problematik widmen sich expliziter noch – und ganz anders – die Montagen Giorgio Ciams. „Picasso‘s life on my skin“ etwa macht – in der Buchform genauso wie als ausgestellte Bilder-Reihe – aus einem einzigen Selbstporträt eine hochstaplerisch-biografische Erzählung: Deren Ausgangspunkt ist das unverfälschte eigene Gesicht. Dem implantiert Ciam in steigendem Maße Züge von Fotografien Pablo Picassos. Sie beginnt mit dem Jahr 1904, den Endpunkt bildet ein Zeitschriftendruck mit dem Kopf des Großkünstlers. Die Aufnahme entstand 1971.

Bei Ciam eine Randerscheinung spiele diese „Medienreflexion für viele Künstler eine entscheidende Rolle“. Zum Beleg führt Anne Thurmann Jajes Hans-Peter Feldmanns Arbeiten zu den Toten der Baader-Meinhof Gruppe an und Klaus Staecks 1978 erschienenen Bildband „Pornographie“. Ein metaphorischer Titel: Auf nacktes Fleisch verzichtet das Künstlerbuch. Stattdessen entlarvt es die Gewaltverhübschung von Abbildungen aus den Massenmedien als fixierter, singulärer Moment, wären die Pressefotos über Kritik erhaben. In eine Reihe gebunden aber, beginnen sie zu sprechen. Sie verraten, weshalb sie entstehen. Sie erzählen die Geschichte ihres Blicks.

Benno Schirrmeister

Ars photographica, Fotografie und Künstlerbücher, Neues Museum Weserburg, Bis 9. März 2003.