Eine „Prise Götterscheiße“

Leidenschaftlicher Streiter für den puren Jazz: Der Pianist und Journalist Michael Naura präsentiert mit dem Buch „Cadenza“ eine Text- und Bildersammlung um alles, was sich um seine Musik rankt

von THOMAS SCHÖNROT

Der Jazz wird wieder populär. Zumindest das, was einige Leute dafür halten. Da finden so genannte Jazz-Battles statt, in denen zwei DJs gegeneinander antreten und vor Publikum Platten aus vergangenen Zeiten auflegen. In angesagten Szene-Kneipen finden Charlie Parker, Miles Davis oder Gil Scott-Heron ihre Zuhörer. Und mitten in St. Pauli, im Mojo-Club, wurde eine Stilrichtung mitentwickelt, die sich Dancefloor-Jazz nennt. Dort werden Sampler zusammengestellt, auf denen klassische Produktionen mit modernen Beats vermengt werden. Auf „Volume 7“ hört man sogar ein Stück von Michael Naura und seinem Quintett: „Take Us Down To The River“.

Was Naura offensichtlich ein wenig unangenehm ist: „Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich auch nicht so richtig.“ Der 68-Jährige ist ein ernsthafter Streiter für seine Musik und mag es gar nicht, mit so etwas in Verbindung gebracht zu werden, schon gar nicht unter der Bezeichnung Jazz. Dazu ist der gebürtige Litauer zu sehr Purist. Seit rund 50 Jahren beschäftigt er sich mit dieser Musik, sowohl als Pianist auf der Bühne als auch journalistisch. Seit 1953 spielt er zusammen mit dem Vibraphonisten Wolfgang Schlüter in verschiedenen Ensembles. Von 1971 bis 1999 leitete er die Jazzredaktion des Norddeutschen Rundfunks. Seine Veranstaltungsreihe „Jazz und Lyrik“ mit Peter Rühmkorf war ein riesiger Erfolg, und als Film- und Hörspielproduzent hat er sich ebenfalls hervorgetan. Am eindringlichsten sind jedoch seine Radiosendungen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften in Erinnerung geblieben.

Letztere bilden die Grundlage für sein vor kurzem erschienenes Buch „Cadenza“. Hier versammelt Naura Konzert- und Plattenkritiken, Nachrufe und Porträts aus den vergangenen elf Jahren. Er tut das mit Verve und scheut sich nicht, Position zu beziehen. Als leidenschaftlicher Musiker weiß er um die Geschichte des Genres. Er hat selbst die Nächte auf der Bühne verbracht, acht Stunden lang gespielt, und sich nur mit Mühe wach halten können. „Nur gut“, sagt er heute, „dass ich damals nicht auch dem Heroin verfallen bin.“ Zu viele seiner Kollegen hat er zugrunde gehen sehen, während sie in ihrer Agonie die schönste Musik gemacht haben.

Das gibt ihm das Recht und die nötige Street Credibility, auf aus seiner Sicht Verdammenswertes einzudreschen und dabei auch eine Sprache zu gebrauchen, die sich in dieser Wortwahl in Feuilletons nur selten findet. Da ist von der „Prise Götterscheiße“ die Rede, die Thelonious Monk und Wynton Marsalis an ihren Schuhen haben, und über Sex wird ebenfalls ausführlich gesprochen. Auf der anderen Seite findet Naura Metaphern und Bilder, die seine Musik, die sich der Beschreibung nur zu leicht entzieht, wunderbar klar und eindrücklich charakterisieren. Doch das ist nur die eine Seite von „Cadenza“. Ein Werkstattbuch ist es geworden, eine Text- und Bildersammlung um alles, was sich um den Jazz rankt.

Viele von Nauras Argumenten sind angreifbar. So seine Grabrede „Ruhe sanft, Jazz“, in der ein „wüster Virus“ beschworen wird, der ihn „aufs Totenlager geworfen“ hat: die Globalisierung. „Im Gepansche des Multikulti wird immer deutlicher: Die Glut des Jazz verschwindet. Das ist wie: Hoden ab!“ In der Tat haben etliche Kombinationen von Jazz- und Weltmusikern nicht mehr viel mit der oft postulierten wahren Lehre zu tun. Jan Garbareks Zusammenarbeit mit Mönchen oder das Zusammenspiel des von Naura hoch geschätzten Moscow Art Trios mit dem mongolische Ensemble Huun Huur Tu findet vor den Ohren den Puristen keine Gnade. Wohlgemerkt: Die Musik sei oft nicht schlecht, aber eben eines nicht: Jazz. Und „das Aufpfropfen fast schon jeglicher Musik der Erde auf den Jazz ist Scheiße, weil daraus eine Bastardisierung entsteht, die, bei Licht besehen, eine Verkrüppelung ist“.

Diese streitbare Behauptung kann man für bare Münze nehmen oder heftig kritisieren. Eines jedoch kann man Naura nicht nachsagen: Dass er seine Musik nicht von Herzen liebt. Aber: Was denn nun Jazz eigentlich ist, um diese Definition drückt sich Naura letztlich herum. Anstatt von den berühmten Blue Notes oder chromatischer Modulation zu sprechen, lässt er lieber einen Berufeneren zu Wort kommen. Als er einmal 1971 mit Stan Getz zusammen musizieren durfte, beim Orchester Kurt Edelhagen, fragte ihn der Saxofonist: „Junger Mann“ – Getz war gerade einmal sieben Jahre älter als Naura –, „sagen Sie mir: Was ist Jazz?“ Und als der verdutzte Pianist anfing zu stammeln, unterbrach ihn der Heros und sagte streng: „Jazz ist Rhythmus!“ Das ist doch immerhin schon einmal ein Anfang.

Michael Naura: Cadenza. Ein Jazzpanorama. Europäische Verlagsanstalt, 2002, 176 Seiten, 30 Euro