Geht hin, wenn ihr Bremer seid

Bremen hat Werder nicht verdient: Das Publikum ist emotionslos, die meisten bleiben gleich zu Hause, und auch die lokale Wirtschaft lässt den Verein links liegen. Dabei spielt die Mannschaft unterhaltsamer denn je: In Abgrenzung zu Übertrainer Otto Rehagel zelebriert sie die unkontrollierte Offensive

Zwanzig Minuten nach Abpfiff. Das Weserstadion ist gähnend leer. Ein paar grün-weiß gewandete trotten über den Osterdeich. Nicht zu ahnen, wie es ausgegangen ist, wären nicht eben ein paar Kaiserslauterner Fans mit Tränen in den Augen vorbeigekommen, geschockt über den schon sicher geglaubten Sieg, der ihnen in letzter Sekunde genommen wurde. Nur die Sieger sind völlig emotionslos.

Wären da nicht die Fans – es könnte eitel Sonnenschein herrschen beim SV Werder. Die Verluste bleiben im Vergleich zu anderen Clubs im Rahmen. Vor der Saison als Abstiegskandidat gehandelt, spielt das Team rasanten Angriffsfußball, mit dem nur wenige Abwehrreihen zurecht kommen. Lange muss man zurückdenken, um eine ähnlich gute Hinserie zu finden, aber keiner merkt’s. Mit 8:0 fegte Werder den ukrainischen Vertreter Metallurg Donezk aus dem UEFA-Pokal, und in der nächsten Runde sehen apathische 20.000 das Aus gegen Arnheim. Der Rest macht es sich auf der Couch bequem. Es ist paradox: Wenn Werder Meister wird, fühlt sich sogar Fußball-Hasser Henning Scherf bemüßigt, „Steht auf, wenn ihr Bremer seid“ zu singen, aber vorher finden Spiele fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Fast jeder Bremer will wissen, wie die Jungs gespielt haben, aber keiner will dabei sein. Man muss beinahe froh sein, dass sich die Firma Czechbau an den „mobilen“ Zusatztribünen für die ehemalige Laufbahn verhoben hat – wie würde das aussehen, mit noch mehr leeren Rängen?

Dabei spielt Werder nicht nur erfolgreich sondern auch ansehnlich. Das liegt vor allem an Johan Micoud. Der Schnäppchen-Franzose, den der frankophile Sportdirektor Klaus Allofs für Lau in Parma loseiste, gibt seit dem ersten Tag den Ton an, spielt feinste Pässe in Serie. Wenn ihm mal die zahlreichen Ideen ausgehen, geht er selbst aufs Tor und reißt die Mannschaft mit. Derart von der Verantwortung entbunden wirbelt Krisztian Lisztes wie in seinen besten Tagen. Vorn reift Ailton vom ballverliebten Düsentrieb immer mehr zum mannschaftsdienlichen Allround-Stürmer, der intelligente Pässe spielt, platzierte Freistöße tritt und neuerdings sogar per Kopf trifft. Und es ist ihm fast egal geworden, wer sein Partner ist: Der Grieche Angelos Charisteas ist mit ebensolcher Wucht eingeschlagen wie seine Kopfbälle ins gegnerische Netz; der junge Markus Daun wühlt emsig und wird allmählich auch mal mit Toren belohnt; sogar auf den schon als Fehleinkauf gehandelten „Knipser“ Ivan Klasnic ist im Ernstfall Verlass.

Bei so viel Offensivgeist mag die Abwehr natürlich nicht nachstehen: Spieler wie Frank Baumann, Mladen Krstajic oder Frank Verlaat, einst die Fleisch gewordene Solidität, mogeln sich ein ums andere Mal nach vorn, um – na was wohl – Tore zu schießen. Dass sie dabei bisweilen ihr Kerngeschäft ein wenig vernachlässigen, hier unglücklich stehen oder dort zu spät kommen, ist verständlich und dient der Unterhaltung. Eine Lektion, die auch Torhüter Pascal Borel gründlich verinnerlicht hat. Unterm Strich bringt diese „unkontrollierte Offensive“, die Otto Rehagel zu serienweisen Ausrastern getrieben hätte, allemal mehr Tore – hüben wie drüben.

Derlei Entertainment scheint man in Bremen einfach nicht zugetan zu sein. Selbst die heimische Wirtschaft bleibt angesichts dieses verschwenderischen Tore-Prassens auf vornehmer Distanz, ließ die Mannschaft über ein Jahr mit nackter Brust herumlaufen. Selbst Bier-Exportriese Beck’s, eigentlich mit einem strikt lokal verwurzelten Image, lässt sein Logo lieber auf lahmenden Jaguaren in der Formel-1 spazieren fahren und versteckt sich in der Werder-Sponsoren Riege in der zweiten Reihe. Morgen (15.30 Uhr, Weserstadion) gibt es praktischen Anschauungsunterricht, dass es auch anders geht: Gegen Borussia Mönchengladbach mit der Nachbarbrauerei Jever auf der Brust ist vorerst die letzte Chance, den Göttern in grün-weiß zu huldigen. Vielleicht nehmen sie das als Geste der Entschuldigung an. Geht hin, wenn ihr Bremer seid. Jan Kahlcke