Sehnsucht nach Landowsky

Unter rot-roter Mehrheit hat das Parlament an Bedeutung verloren. Die politische Willensbildung findet im Senat statt, das Abgeordnetenhaus darf nur noch „nachbesprechen“. Die Debatte verödet

von ROBIN ALEXANDER

Als das Schlimmste, was einem Parlament passieren kann, gilt gemeinhin eine große Koalition. Berlin ertrug diesen Zustand elfeinhalb Jahre – bis zum 1. Juni 2001. Nun aber herrschen wieder klare Fronten: linke Regierung gegen bürgerliche und grüne Opposition. Aber das Parlament hat sich nicht zum wirklichen Forum der politischen Auseinandersetzung in dieser Stadt entwickelt. Im Gegenteil: Unter Rot-Rot hat es sogar weiter an Bedeutung verloren.

Die Aufstellung eines Nachtragshaushalts berührt die Kernkompetenz des Parlaments: sein Budgetrecht. Aber die Entscheidung darüber traf Ende November ein Gremium, das in der Landesverfassung nicht vorkommt: ein so genannter Koalitionsausschuss. SPD und PDS schickten dorthin mit dem Regierendem und vier Senatoren gleich fünf Vertreter der Exekutive, denen mit Michael Müller (SPD) und Stefan Liebich (PDS) nur die Fraktionschefs gegenüberstanden, die ebenfalls an den Senatssitzungen teilnehmen. Auf die Möglichkeit, wenigstens einen echten Vertreter der Legislative hinzuzuziehen, verzichtete die PDS und schickte mit Carl Wechselberg stattdessen einen Mitarbeiter – mit Fachwissen, aber ohne Mandat.

Sicher: Der Nachtragshaushalt wird im Parlament noch „nachbesprochen“. Aber über die eigentliche politische Entscheidung, 219 Millionen einzusparen, die ungleich höheren Steuerausfälle jedoch über Neuverschuldung auf kommende Generationen abzuschieben, wird nicht mehr gestritten. Der Präsident des Parlaments, Walter Momper (SPD), sieht darin kein Problem: „Das ist eben Meinungsbildung vom Senat her – der ist auch ein Verfassungsorgan.“

Bei der bisher wichtigsten politischen Entscheidung von Rot-Rot, der Risikoabschirmung für die Bankgesellschaft, konnte man das Parlament nicht umgehen. Aber seine Willensbildung pervertierte zur Farce. Nur unter Aufsicht durften die Abgeordneten 35 Aktenordner für wenige Stunden einsehen – Kopien gab es nicht, Funktelefone und Notizblöcke waren vorher abzuliefern.

So ohnmächtig wie heute war das Abgeordnetenhaus lange nicht mehr: In der Endphase der großen Koalition qualifizierten sich Harald Wolf (PDS) als offizieller und Klaus Wowereit (SPD) als heimlicher Oppositionsführer im Hauptausschuss für die Ablösung der Regierung. Heute regiert der Senat über das Instrument Geschäftsordnung sogar die Plenarsitzung. Anträge von CDU, FDP und Grünen, ihre Positionen in einer „aktuellen Stunde“ darzulegen, werden von der rot-roten Mehrheit regelmäßig niedergestimmt. Nicht einmal einer Vorverlegung der donnerstäglichen Sitzungen auf 11 Uhr wollte die SPD zustimmen. So finden wichtige Abstimmungen weiterhin unter Ausschluss der Öffentlichkeit mitten in der Nacht statt. Wenn sie stattfinden: Einmal schon in dieser Wahlperiode musste Momper peinlich berührt Beschlussunfähigkeit des Hauses feststellen. Zu viele Abgeordnete waren nach Hause gegangen oder in die Kantine.

Alle Senatoren und sogar die beiden Regierungssprecher wirken in den Fraktionen mit. Die Fraktionschefs – eindeutig Legislative – nehmen hingegen an den Senatssitzungen teil. Stefan Liebich ist im Senat in wichtigen Fragen aktiver als die PDS-Senatoren Heidi Knake-Werner und Thomas Flierl. Parlamentspräsident Momper sieht diese Praxis „nur als problematisch an, wenn man einem altertümlichen, deutschen Verfassungsverständnis anhängt“.

Die rasante Veränderung Berlins seit dem Epochenbruch von 1989 spiegelt sein Parlament nicht wider. Das Abgeordnetenhaus blieb fest in Westberliner Hand. Die Karriere von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beweist: Ein Ostdeutscher kommt schneller in ein Staatsamt der Bundesrepublik als in ein hohes Amt in Berlin. Erstaunlicherweise nimmt auch die regierende PDS dies hin.

Eines kann man den Berliner Abgeordneten auf keinen Fall vorwerfen: Faulheit. 206 Stunden dauerten die Sitzungen des Hauptausschusses und seiner Untergremien bei den letzten Haushaltsberatungen, hat die genervte Finanzverwaltung ausgerechnet. Zum Vergleich: In Rheinland-Pfalz brauchte man für die gleiche Angelegenheit nur 19 Stunden.

Die wirklich einflussreichen Politiker agieren heute im Abgeordnetenhaus höchstens nebenbei. Der Vorsitzende der größten Fraktion, Michael Müller, ist hinter Wowereit und Strieder lediglich Nr. 3 in der SPD-Hackordnung. Den PDS-Fraktionsvorsitz verwaltet der erst 29-jährige Parteichef Stefan Liebich nebenbei – beinahe widerwillig und zum Unmut einiger Fraktionäre. Frank Steffel, CDU-Fraktionschef, wird von den Seinen gemobbt. Der entscheidende Mann der FDP, Günter Rexrodt, hat jedes Interesse an Landespolitik verloren und seinen Sitz im Abgeordnetenhaus abgegeben.

Nur die vierzehn grünen Abgeordneten geben in ihrer Partei den Ton an – und gehen in ihrer Oppositionsrolle auf. Das war auch schon in Zeiten der großen Koalition so. Besonders die grünen Finanzexerten Jochen Esser und Oliver Schruoffeneger klopfen medienwirksam jeden Sparvorschlag ab. Dabei nutzen die beiden eine Berliner Besonderheit, um sich immer wieder ins Gespräch zu bringen: Nur im Abgeordnetenhaus sind auch die Ausschusssitzungen öffentlich.

Und das Schaufenster der Demokratie – die großen Debatten im Parlament? Die neue Schlachtordnung, Rot-Rot gegen das beleidigte Bürgertum, produziert bisher keine großen Redner. Als wortmächtigster Politiker gilt – noch immer – Wolfgang Wieland. Aber der grüne Fraktionsvorsitzende ist ein bisschen müde geworden. Die rot-rote Politik sei oft falsch, aber nicht so falsch wie die schwarz-rote, entschuldigt der Grüne: „Da fehlt mir manchmal ein bisschen die Empörung.“

Die liberale Innenpolitik und die blasse Senatorenriege erschweren den notwendigen Zorn für eine richtig gute Rede. „Ich habe keine Lust, den Alleinunterhalter zu geben“, schimpft Wieland und denkt an seinen alten Lieblingsfeind. Der hielt zwar auch nicht viel von Gewaltenteilung, wusste aber wenigstens sein Wort zu machen. Leise grummelt Wieland: „Manchmal habe ich fast Sehnsucht nach Klaus Landowsky.“