Der Berliner Berg ruft – vom TÜV geprüft

Im Wedding steht Berlins größte Kletterhalle. Hier üben Profis und blutige Anfänger an 2.500 Quadratmeter Kunststoffwand bis zu 20 Meter Höhe

von TOM NIEMANN

Herrje, worauf habe ich mich bloß eingelassen? Jetzt hänge ich hier in Schwindelerregender Höhe an einer senkrechten Wand und weiß nicht weiter. 12 Meter bis zum Boden und 6 Meter bis zur Decke. Meine Beine zittern, meine schweißnassen Hände krallen sich verkrampft an einem grünen Plastikgriff fest und ich bin wie gelähmt. „Ruh dich erst mal ein bisschen aus“, ruft Kathrin, meine Klettertrainerin von unten. „Vertrau mir!“ Also gut, wenn sie es sagt: Ich vertraue ihr, setze mich in den Klettergurt, der wie eine Windel um meine Beine und Hüften geschlungen ist und baumele wie ein Sack Zement an dem Sicherungsseil.

Der Ausblick auf das Treiben in der gigantischen Kletterhalle ist beeindruckend. Der Name „Magic Mountain“ ist durchaus zutreffend: Vom Keller bis zur Decke habe ich alles im Blick. Überall hängen die Kletterer an den bis zu 20 Meter hohen Kunstharzwänden. An der Bar im ersten Stock trinken ein paar verschwitzte Sportler einen Mineraldrink, der sie wieder zu Kräften führt. In der Fitnessecke im Kellergeschoss stemmen andere zentnerweise die Gewichte. Ja, Muskeltraining ist sicherlich eine gute Vorbereitung für den Kraft zehrenden Akt in der Wand. Hoffentlich lässt Kathrin mich jetzt nicht fallen.

Die Kletterer um mich herum machen eine deutlich bessere Figur. Mit sicheren Schritten und geschickten Händen hangeln sie sich von Griff zu Griff, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Sichtlich zufrieden gleiten sie an ihren Seilen die Wand wieder hinab. „Alles eine Frage der Übung“, sagt Kathrin, „für trainierte Sportkletterer ist deine Route fast so leicht wie Treppensteigen.“

Kathrin wird es wissen. Sie ist schließlich schon seit rund 15 Jahren vom Klettervirus befallen. Damals waren die Trainingsmöglichkeiten allerdings sehr beschränkt. Man musste schon in die Berge reisen und war Wind und Wetter völlig ausgeliefert, wenn man sich aufmachte allein mit Karabinerhaken und Seil. Immer wieder dieselben Fragen: Hält der Stein? Reicht die Kraft? Schaffe ich es bis zum Gipfel? Der Adrenalinspiegel steigt ins Grenzenlose. Maximale Konzentration bei jedem Schritt. Man denke nur an Sylvester Stallone, dessen Leben in Cliffhanger über 90 Minuten buchstäblich an einem Haken hängt.

20.000 Griffe geben Halt

Heute sieht die Sache zum Glück völlig anders aus: Die Wände sind aus Kunstharz, stehen in einer beheizten Halle und die angeschraubten Griffe, Haken und Rollen sind garantiert TÜV-geprüft. Also eine rundum sichere Sache. Hier absolvieren versierte Sportkletterer auch im Winter sicher ihr Trainingspensum, und blutige Anfänger können sich für schlappe 20 Euro den ersten Kick abholen, der sie vielleicht schon bald unheilbar mit dem Klettervirus infiziert.

An den gigantischen Wänden, die sich über mehr als 2.500 Quadratmeter vom Keller bis unters Dach erstrecken, kleben mindestens 20.000 bunte Plastikgriffe: rote, grüne, blaue, gelbe, weiße. Jede Farbe steht für eine Route und jede Route stellt ganz spezielle Anforderungen an den Kletterer.

Der drahtige Bursche an der Wand neben mir hat eindeutig eine der schwersten Touren gewählt. Mindestens Grad zehn. Die Wand hängt steil vorne über. Vom Boden bis zur Decke muss man die wenigen und dazu winzig kleinen roten Plastikschalen förmlich suchen. Mit der linken Hand hängt Felix an einem Griff, der nicht größer als eine Kastanie sein kann. Seine Beine hängen lose über dem Abgrund.

Mit der rechten Hand greift er lässig in die Tasche hinten an seinem Gurt, um sie kurz darauf mit Kreide bestäubt an den nächsten Griff zu klammern. Meter für Meter hangelt er sich weiter, bis auch sein rechter Fuß wieder Halt findet. Der Typ schwitzt ja nicht einmal, denke ich und merke, wie beim Anblick der waghalsigen Manöver die Kraft aus meinen Fingern weicht. Aber sei’s drum: Im Fall der Fälle habe ich ja Kathrin, die mich vor einem Absturz bewahrt.

Ganz anders der Kletterer neben mir. Er hat keinen Schutzengel am Boden, kein Seil an der Hallendecke, das ihn auffängt. Regelmäßig klinkt er einen Karabiner von seinem Sicherungsseil am Gurt in eine lebensrettende Öse an der Wand. In unberührter Natur wäre die Sache wohl ziemlich gefährlich.

Aber Felix ist ein alter Hase. Wenn er nicht gerade irgendwo in Frankreich unberührte Felswände emporklettert, macht er sich in den Magic Mountains fit für die nächste Herausforderung. Er liebt das Unbekannte und klettert deshalb in der Regel on sight. Soll heißen: An einer unbekannten Felswand hangelt er sich unbeeindruckt von unvorhergesehenen Schwierigkeiten langsam zum Gipfel. Vorsprung für Vorsprung krallt er seine Finger in die kleinsten Felsspalten und etwa alle 3 Meter schlägt er einen Sicherungshaken in den Stein. Dagegen ist die Hallenkletterei sicherlich eine leichte Übung.

Angestachelt von der akrobatischen Fortbewegung meines Wandnachbarn komme ich dem Ziel langsam, aber sicher näher. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffen würde, schließlich sind die Griffe auf meiner Anfängerroute so groß wie Suppentassen, die so dicht beieinander liegen, dass ich bestimmt nicht in die Verlegenheit komme, mich einhändig weiterhangeln zu müssen.

Geschafft! Endlich habe ich den letzten Griff auf meiner Tour erreicht. Erschöpft, aber glücklich winke ich meiner Trainerin 18 Meter unter mir zu und gebe das Zeichen zum Abseilen. Langsam lässt Kathrin mich Richtung Boden gleiten. Mit den Füßen drücke ich mich stets von der Wand weg. Das sieht nicht nur cooler aus, als wenn man wie ein nasser Sack herabgelassen wird, das ist auch sicherer. Schließlich will ich mir an der rauen Wand nicht die Knochen lädieren.

„Du hast dich ganz gut gehalten“, meint Kathrin und blickt auf meine angeschwollenen Unterarme, „allerdings solltest du mehr mit den Füßen klettern.“ Nun gut – das lerne ich dann wohl nächstes mal, wenn ich den Grundkurs absolviere.

Infos: Magic Mountain: Climbing Center Berlin, Böttgerstraße 20–26 (U-/S-Bahnhof Gesundbrunnen), 13357 Berlin, (0 30) 8 87 15 79, www.magicmountain.de, Öffnungszeiten: Mo.–Fr. 12–24 Uhr, Sa./So. 11–22 Uhr, Eintritt: Mo.–Fr. vor 15 Uhr 12 Euro, Mo.–Fr. 15–21 Uhr 14 Euro, Mo.–Fr. ab 21 Uhr 12 Euro, Sa., So. 16 Euro, 10er-Karte 130 Euro