stefan kuzmany überAlltag
: Von Eiszapfen am Prenzlauer Berg

Mit Wessis kann man sich einfach nicht normal unterhalten – nicht mal, wenn es bitterkalt ist

So etwas gibt es sonst doch nur während einer Fußballweltmeisterschaft. Oder, früher vielleicht, nach einer „Wetten, dass …?“-Sendung: dass alle ein gemeinsames Thema haben; dass man sich an einem beliebigen Ort zu einer beliebig großen Ansammlung von Menschen stellen und den Mund aufmachen und garantiert etwas Passendes zum Gespräch beitragen kann: „Ist es nicht bitter-, bitterkalt?“

Ja, es ist, antworten dann alle. Es ist so furchtbar kalt. Das Gespräch kommt flugs in Gang. „Die Autoscheiben frieren von außen und von innen zu.“ – „Wer jetzt keine Handschuhe hat, wird sich keine mehr stricken.“ – „Wer sich unvorsichtig im Freien mit der Zunge über die Lippen streicht, kann froh sein, wenn Letztere nur aufplatzen.“ – „In schweren Fällen soll die Zunge schon kleben geblieben sein und musste aufwändig ärztlich entfernt werden.“ – „Ich wollte mir die Stadt ansehen, bin mit der U-Bahn zum Kurfürstendamm. Dort sah ich Roberto Blanco mit zwei Blondinen im Arm. Ich drehte sofort wieder um und fuhr heim. Es war außerdem einfach zu kalt.“

Alle nicken dann und äußern Verständnis. Die große Vereinzelung der Menschen scheint für die kalten Wochen des Jahres aufgehoben zu sein. Da ist plötzlich so etwas wie Identität und Gemeinschaftsgefühl. Dachte ich. Und dachte: Dann klappt’s vielleicht auch mit der Kioskfrau und insofern auch mit der Wiedervereinigung, endlich.

Die Kioskfrau, müssen Sie wissen, ist einer meiner wenigen Ostkontakte. Sie hat ihren Laden in einer Seitenstraße am Prenzlauer Berg und ist, insofern nicht ungewöhnlich, Ostberliner Herkunft. Eine kleine, stämmige Person mit Berliner Dialekt und blonder Kurzhaarfrisur von Mitte bis Ende vierzig. Erwache ich am Prenzlauer Berg, kaufe ich bei ihr meine Zeitungen. Als ich ihren Laden vor ungefähr vier Jahren zum ersten Mal betrat, schien es zunächst nicht so, als ob sie tatsächlich in eine Geschäftsbeziehung mit mir treten wolle. Lieber plauderte sie mit der Kundin vor mir, einer offenbar alten Bekannten, über die schulischen Fortschritte der eigenen Kinder. So lange, bis ich den Laden wieder verließ.

Seither haben viele Kioske am Prenzlauer Berg aufgemacht, und die Kioskfrau hat begriffen, dass sie sich um ihre Kunden kümmern muss, wenn sie ihren Laden weiterhin behalten will. Schon durchs Fenster winkt sie mir nun, wenn ich an ihrem Laden vorbeigehe, um zunächst den Bäcker aufzusuchen. Das Winken bedeutet: Ich habe dich gesehen. Untersteh dich, jetzt in einen anderen Kiosk zu gehen und etwa dort und nicht hier deine Zeitungen zu kaufen, denn sonst …!

Was sonst passieren würde, will ich regelmäßig nicht wissen und gehe natürlich zu ihr. Sobald ich dann vor ihrer Theke stehe, beginnt sie zu reden: praktizierte Kundenbindung. Doch wie das so oft ist zwischen Ost und West: Wir reden aneinander vorbei. Das liegt vor allem daran, dass eigentlich nur sie redet: „Hallo, junger Mann, besteht noch Bedarf an einer Zeitschrift? Nein? Haben Sie denn schon alle Ihre Weihnachtsgeschenke?“ – „Was?“ Ich muss gestehen, dass ich oft etwas einsilbig antworte, weil ich sie verdächtige, dass sie sich für meine Antworten auf ihre Fragen sowieso nicht interessiert, sondern nur eine Beziehung aufbauen will, die es mir schwer macht, einen anderen Kiosk aufzusuchen. „Also, ich hab ja alle Weihnachtsgeschenke fertig verpackt, schon seit drei Wochen stehen die bei mir.“ – „Aha.“ – „Ja da gibt’s ja solche und solche, und ich bin eben so eine, ich muss das schon vorher fertig haben. Gibt’s denn einen Plastik- oder einen Naturbaum bei Ihnen?“ – „Was?“ – „Plastik oder Natur?“ Es ist dir doch völlig egal, will ich dann fast sagen, sage es aber natürlich nicht. Wir haben einfach kein gemeinsames Thema. Dann kam die Kälte.

Die Kioskfrau war mal wieder ins Gespräch mit ihrer alten Bekannten vertieft. Es ging um die mörderischen Außentemperaturen. Die Chance für mich, den mittlerweile gut bekannten guten Kunden, endlich auch einmal etwas beizutragen. Die Kioskfrau sprach gerade von Eiszapfen: „Da gab es früher so richtig dicke bei uns daheim, die hingen von der Dachrinne herunter, das sah eigentlich ganz gut aus.“ Dann die Bekannte: „Ich komm ja vom Dorf. Und bei uns gab es sogar Eiszapfen, die wuchsen von unten nach oben.“ Mein Moment war gekommen. Lässig warf ich ein: „Aha, wie Stalagmiten.“ Verständnislos blickte mich die Kioskfrau an und sagte: „Neee, Eis.“

Es wird noch viele Generationen dauern, bis Ost und West sich verstehen, dachte ich versonnen auf dem Weg zum Berliner Naturkundemuseum. Da gibt es allerlei Fossilien und Urtiere zu sehen. Ganz in der Nähe befinden sich Manfred Stolpes Bauministerium und die Bundesgeschäftsstelle der Grünen. Was ganz praktisch ist: Wenn deren Insassen demnächst ausgestopft werden, muss man sie danach gar nicht weit tragen.

Im Keller des Naturkundemuseums gibt es eine Gaderobe. Ein alter Mann nimmt dort die Mäntel in Empfang. Er ist so alt, dass er Manfred Stolpes Großvater sein könnte. „Schön warm haben Sie es hier“, sagte ich. Er sah mich nur an, aus eisblauen, starren Augen. Dann sagte er ein einziges Wort, voller Unverständnis und Verachtung: „Warm?“ Mich fröstelte.

Fragen zu Alltag? kolumne@taz.de