Raddatzong, Raddatzong

Wie der Kritiker Fritz J. Raddatz sich einmal an dem Dichter Robert Gernhardt rächte

„Wie bald begann Resignation, gar Erbitternis?“, fragte sich der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz vor vielen Jahren in der Zeit und prägte in demselben Artikel das geflügelte Wort: „Hoffnung zersiebt.“ – „Zersiebt?“, fragte Robert Gernhardt damals in der Titanic zurück. „Nicht ‚versiegt‘? Oder ‚zerstiebt‘? Oder gar ‚zerstäubt‘? Eben nicht. Raddatz packt sie alle in seine Neuschöpfung, und schon ist jeder Sinn zerstoben.“

Mit solchen Widerworten piesackte Gernhardt – „Raddatzong, Raddatzong“ – einen Mann, den er auch später noch des Öfteren genießerisch als „Fritz ‚Jrammatikschänder‘ Raddatz“ vorführte, und man darf annehmen, dass Raddatz den märchenhaften Erfolg des Lyrikers Gernhardt in den Neunzigerjahren mit wachsender Erbitternis verfolgt hat. Doch erst am vergangenen Donnerstag, in der Literaturbeilage der Zeit, hat Raddatz zum Gegenschlag ausgeholt und versucht, Gernhardts neuen Gedichtband „Im Glück und anderswo“ zu verreißen. Das ist jedermanns gutes Recht, und der mittlerweile von Bild und Gott und der Welt unisono gerühmte Dichter Gernhardt wird es verschmerzen können, wenn sich einmal eine kritische Stimme in den Chor der Huldigenden mischt. Aber was hat Raddatz gegen Gernhardts Gedichte einzuwenden?

Erstens dass sie nicht tiefsinnig sind. „Beim ersten Glas sprach Husserl: / ‚Nach diesem Glas ist Schlusserl‘ “ – für Raddatz hat das etwas „Applaussüchtiges“ und ist deswegen verdammenswert.

Zweitens dass sie nicht tiefsinnig sind. „Es ist nicht Heinrich Heines Kühnheit, mit der dieser ‚ästhetisch‘ auf ‚Teetisch‘ reimte; es ist Saloppheit, mit der Robert Gernhardt irgendein Wort aufklaubt, aber sorgsam jeden Stolperstein meidet. Prinzip Unterhaltungsliteratur.“ Hier kehrt in neuer Gestalt der gleiche alte Käse wieder, der schon zu Heinrich Heines Lebzeiten gegen dessen unterhaltsame Gedichte vorgebracht wurde.

Drittens dass sie nicht tiefsinnig sind. „Gedankenarm, doch reich an Schick“ seien sie; bei Gernhardt stamme alles „aus zweiter Hand“, er biete statt „Brot“ nur „Häme-Plätzchen“ und „Popcorn“ und sei ein „Schriftsteller ohne Stil“. Damit käut Fritz J. Raddatz seinerseits einige uralte Plätzchen wieder, die bereits der Generation von 1914 altbacken vorgekommen sein müssen – hier das Echte, Reine, Wahre, Brotige und dort das Schicke, Welsche und Hämische, aber es kommt noch schlimmer.

Denn viertens nimmt Robert Gernhardt in seinen Gedichten verbotenerweise Wendungen aus dem Volksmund und aus der Reklame auf. Raddatz: „Derlei neckische Klöppelei ließe sich seitenlang zitieren, durchsetzt mit Sprachanbiederungen à la ‚Wo ich so tierisch gut drauf war‘ oder Anleihen bei der Internet-Sprache: ‚Know-how‘ darf so wenig fehlen wie ‚alles klar‘, ‚O.K.‘, ‚macht Sinn‘, ‚cool‘, ‚specialeffects‘. Da läuft ein 65-Jähriger in kunstvoll zerfetzten Jeans der Discjockey-Jugend hinterher. Sushi-Poesie.“ Zitat Ende. Und da fragt man sich doch, in welcher Welt Fritz J. Raddatz lebt. „Know-how“, „alles klar“, „cool“, „O.K.“ – ist das die „Internet-Sprache“ unserer „Discjockey-Jugend“? Waren solche Vokabeln nicht schon allgemein geläufig, als Bismarck noch kein Getränk, sondern Kanzler war, also vor etwa fünftausend Jahren? Und welches Gesetz verbietet es Lyrikern, sich der Alltagssprache zu bedienen? Und was hat das alles mit der japanischen Küche zu tun?

Fünftens und letztens wirft Raddatz Gernhardt vor, dass er seine Aufsätze sowieso nie in ernst zu nehmenden Journalen wie der Zeit, in den Horen oder im Times Literary Supplement, sondern „zu Recht in so aparten Publikationen wie ‚Titanic‘ und ‚ Pflasterstrand‘ platziert“ habe. So höhnt ein Verwalter der Werke von Kurt Tucholsky, der doch zeitlebens auch nicht viel mehr als eine kleine, feine Zeitschrift namens Weltbühne belieferte.

Ahoi, kann man da wohl nur sagen. Willkommen im Urschleim der Germanistik von anno Tobruk! GERHARD HENSCHEL