Früher crazy, heute cosy

Die einstmals berüchtigten Crazy Canucks leiden unter Nachwuchsproblemen. Doch mit Alpinchef Ken Read, einem der angstlosen kanadischen Abfahrer von früher, soll neuer Schwung ins Team kommen

Legendär ihre wahn-witzigen Stürze, ein Fest für die Fans der Super-Slow-Motion

von THOMAS BECKER

Zum Beispiel Dave Irwin. Er lebt auch lange nach dem Karriereende, wie man es von einem Crazy Canuck erwartet: gerade noch so. Acht Monate lag er im Krankenhaus, einen Teil davon im Koma. Irwin war Skifahrer mit Leib und Seele und einer der besonderen Art.

Skierscross heißt der Wettbewerb, ähnlich dem Boardercross der Snowboarder, bei dem ein halbes Dutzend Wettkämpfer zugleich auf den mit Hindernissen, Sprüngen, Steilwandkurven und anderen Unfallfallen dekorierten Parcours gehen. Wer zuerst unten ist, gewinnt – wie früher im Abfahrtsweltcup. Den hatte Irwin in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit seinen kanadischen Kumpels ordentlich aufgemischt: Brian Stemmle, Steve Podborsky, Ken Read, Todd Brooker, Rob Boyd: die Crazy Canucks.

Ohne Rücksicht auf Leib und Leben stürzten sich die Fahrer in den quietschgelben, braun abgesetzten Rennanzügen die eisigen Weltcup-Hänge hinab, dass es einem Max Rauffer vom heutigen deutschen Team allein vom Zuschauen wohl schon schlecht werden dürfte. In den damals noch real existierenden „Kamelbuckeln“ von Gröden fanden sie eine neue Ideallinie: den ersten Buckel nutzen, um den zweiten gleich zu überspringen – ein japanischer Zuschauer würde beim Anblick dieser Hasardeure ganz sicher von Harakiri sprechen. Legendär ihre wahnwitzigen Stürze, ein Fest für die Fans der Super-Slow-Motion. Auch die Kneipentheker der Weltcup-Orte könnten mit ihren Canuck-Geschichten von damals dicke Bücher füllen.

Und heute? Heute sitzt der so schlimm verunglückte Dave Irwin sehr beeinträchtigt zu Hause in Canmore (Alberta), während seine Nachfolger im Weltcup hinterherfahren: Bei der Abfahrt in Val d’Isere landete seit sehr langer Zeit ein Kanadier mal wieder in den Punkterängen: Erik Guay auf Rang 28.

Kanada, einst neben Österreich und der Schweiz die große Skination in der Disziplin Downhill, hat ein Problem. Vergangene Saison belegten die acht besten Kanadier in der Gesamtwertung des Abfahrts-Weltcups Ränge zwischen 46 und 120. Dagegen sehen sogar die deutschen Nicht-Ergebnisse noch einigermaßen ordentlich aus. Wer genau hinsieht, bemerkt aber, dass die Mannschaft nur sporadisch am Weltcup-Geschehen teilnahm.

Der Großteil des Teams war noch zu grün hinter den Ohren, und die Oldies rissen sich kein Bein mehr aus. Nach den Olympischen Spielen von Salt Lake City wurden fünf Trainer verabschiedet, hörten Altstars wie der 31-jährige Ed Podivinsky auf, nahm sich ein neuer Präsident den Skiverband zur Brust: kein Geringerer als Ken Read. Und schon nach einem halben Jahr Amtszeit wird niemand einen anderen Begriff in den Mund nehmen als Glücksgriff.

Ken Read, 46, ehedem einer der verrückten Pistenraudis, Sieger in Wengen und Kitzbühel, ist heute Alpin-Direktor und der Prince Charming in Kanadas Skisport. Volles, aber fast weißes Haupthaar, darunter das glatt rasierte, faltenfreie, kerngesunde Babyface eines Twens, so stellt sich Read heute vor. Ein Typ mit Ausstrahlung, immer nett, immer für einen da, aber klar doch. Einer mit hohem Wiedererkennungsfaktor. Der, auf den sie nur gewartet haben in Kanadas Skisport.

Als Read vor zwei Wochen zum Weltcup-Auftakt der schnellen Disziplinen auf seinem Hausberg in Lake Louise nahe seiner Heimatstadt Calgary mit ein paar dieser im Grunde nervenden Journalisten reden sollte, sagte er nur: „Wir fahren hoch: Top of the world.“

Oben an der Bergstation machte er eine Handbewegung zur malerischen Bergkette gegenüber, zum mächtigen Victoria-Gletscher, zum feudalen Hotel am Lake Louise, zum Bow River, für Marilyn Monroe einst der „River of no return“, und sagte dann: „Welcome to my office!“ – kein PR-Manager, kein Tourismus-Chef könnte das besser inszenieren. Read ist der Gegenentwurf zum klassischen Funktionär. Noch sehr flott auf den Skiern unterwegs, eine Legende und stetes Vorbild für die jungen Fahrer. Und für die will er vor allem da sein.

„Wir haben zu viele Fehler in der Entwicklung gemacht, waren zu nachlässig in der Jugendarbeit“, sagt Read. Angefangen habe der Niedergang schon nach den Olympischen Spielen in Calgary: „Nach 1988 ist es mit allem runtergegangen. Und die wenigen Guten, die wir hatten, haben uns wieder zu schnell verlassen.“ Die Ergebnisse von heute beruhen auf den Fehlern von gestern, sagt Read.

Nun müsse man erst mal gute World-Cup-Events präsentieren, sagt Read, prima Hotels bieten, Sponsoren und Fernsehsender begeistern, Geld auch über den Tourismus ranschaffen – und vor allem dem halben Dutzend junger, milchgesichtiger Canucks um den österreichischen Chefcoach Burkhard Schaffer Zeit geben. „Mich haben sie schon mit 19 auf die Streif geschickt“, sagt Read vorwurfsvoll. Er wurde trotzdem guter Achtzehnter auf der halsbrecherischen Strecke in Kitzbühel.

In Val d’Isere fuhr wenigstens einer in die Punkte, Guay (21) aus Mount Tremblant in der Provinz Quebec, vorbelastet durch eine skiverrückte Familie und reichlich Lob vom Trainer: „Das ist einer für alle vier Disziplinen.“

Guay gibt sich lernbereit, aber auch selbstbewusst: „Sie haben mir gesagt, das Schwerste sei, zum ersten Mal unter die 30 zu fahren.“ Will sagen: Von nun an geht’s nur noch aufwärts. Dennoch behalten Ken Read & Co. zunächst einmal ihren inoffiziellen Slogan bei: Du musst gehen, bevor du rennen kannst.

Das gilt leider auch für Dave Irwin.