Arrogante Pomadigkeit

Reiner Calmund verdaut die 0:2-Niederlage von Bayer Leverkusen gegen den 1. FC Nürnberg mit einem Sermon, der aber auch das Rätsel ungelöst lässt, warum der Vizemeister so erfolglos ist

„Uns fehlt vor allem die Jetzt-gehen-wir-ran-Mentalität“

aus Leverkusen ERIK EGGERS

Erstaunlich eigentlich, aber Reiner Calmund wirkte recht gefasst, gerade so, als habe er die 0:2-Heimniederlage gegen den 1. FC Nürnberg erwartet. Nach den letzten desaströsen Pleiten gegen den VfB Stuttgart oder auch gegen den HSV hatte der schwergewichtige Manager von Bayer Leverkusen noch auf jeden Kommentar zur Lage verzichtet. Diesmal aber setzte Calmund zu einer Abrechnung an, die sich gewaschen hatte, zu einer Generalkritik, die vorbereitet schien.

Betrachtete Calmund diese Niederlage doch als „ein Spiegel der Hinrunde“, da sich Bayer nach dem Rückstand durch Ciric (58.) wieder einmal selbst aufgegeben und sich, wie es Bayers Jungmanager Ilja Kaenzig noch drastischer formulierte, „als tote Mannschaft“ präsentiert hatte. Viele Aktionen besaßen nach diesem Rückstand den Charakter einer kollektiven Leistungsverweigerung. Vor allem Boris Zivkovic auf der rechten Abwehrseite vermittelte den Eindruck, als betrachte er Gegenspieler wie Cacau, der dann auch das 0:2 in der 88. Minute durch Junior vorbereitete, nicht seiner würdig. Nur in einer einzigen Situation explodierte jener Zivkovic: Als er nach einem im Übrigen korrekten Abseitspfiff auf den Linienrichter zusprintete, ihn beschimpfte und sich so die fünfte gelbe Karte abholte. Ansonsten provozierte er Anhänger und Gegner mit einer unfassbar arrogant wirkenden Pomadigkeit.

Doch, wie gesagt, Calmund wollte sich nicht allein mit dem letzten Auftritt vor der Winterpause begnügen. „Absolut unbefriedigend“, so der Manager, sei diese Hinrunde verlaufen, erneut habe man „im eigenen Stadion nach einem Gegentor total die Linie und Ordnung verloren“, der Mannschaft fehle nicht nur „Sicherheit und Selbstbewusstein, sondern vor allem auch die Jetzt-gehen-wir-ran-Mentalität.“ Eine Art Drehbuch wollte er in den fünf Heimniederlagen erkannt haben: „Immer spielen wir in der ersten Halbzeit nicht glanzvoll, aber überlegen, treffen aber nicht das Tor. Und nach dem ersten Gegentor brechen bei uns alle Dämme, jede Ordnung geht verloren, vorne, in der Mitte und hinten.“ Nicht einmal die gute, alte Brechstange werde nach den Rückstanden herausgeholt, nicht mal die. Und dann folgte der Vergleich, den er vermutlich hatte vermeiden wollen, der Vergleich zur Saison 1995/96, als die Mannschaft durch ein Tor in letzter Minute gegen den 1. FC Kaiserslautern nur knapp dem Abstieg entronnen war. Wiederholt sich also die Fußballgeschichte, droht dem Werksklub unter dem Bayer-Kreuz nun ein ähnlich dramatisches Szenario? Calmund wollte davon nichts wissen: „Nee, nee, das ist ja jetzt 2002 und nicht 1996!“

Dass sich die Verantwortlichen aber doch genau darüber Gedanken machen, belegten Calmunds Überlegungen für die nähere Zukunft. Fortan will er Ausreden nicht mehr zulassen. „Viele Verletzte, müde, mental platt, zu viele Spiele – all das“, so Calmund energisch, „ist bei uns jetzt nicht mehr anzuwenden“. Und spätestens diese Aussage war als offene Kritik an den Klageliedern eines Klaus Toppmöller zu verstehen, der den Fans direkt nach dem Spiel trotzig eine „Riesenrückrunde“ versprach. Calmund aber beschleicht eine dunkle Ahnung, dass Sprüche dieses Formats kaum ausreichen werden, um der Krise in Leverkusen wirksam zu begegnen. „Das scheint ja auch eine Kopffrage zu sein“, meinte er nachdenklich, „und das ist in der Winterpause auch nicht so einfach abzuschaffen“.

Sie befürchten in Leverkusen eine Fortsetzung dessen, was man im Sport gern das Momentum nennt. Die Situation in Leverkusen ist diffizil, und sie ist nicht nur damit zu erklären, dass Ballack und Zé Roberto den Klub verlassen haben. Das größte Problem ist vermutlich, dass die Spieler, obwohl sie das ständig verneinen, immer noch wehmütig an spielerische Highlights gegen Juventus, Liverpool oder Manchester zurückdenken. Und nicht nur sie: „Ich stelle mich jetzt nicht hin und sage: Was habt ihr hier für einen Mist gegurkt?“, sagte Calmund am Samstag, „das sind doch dieselben Spieler, mit denen wir noch vor einem halben Jahr die totalen Erfolge gefeiert haben.“ Vielleicht ändert sich diese Einstellung ja nach dem ersten Ligaspiel in der Rückrunde gegen Cottbus. Oder nach dem Pokalviertelfinale in jenem Ort, dessen Name immer noch als Synonym Leverkusener Versagens gilt: Unterhaching.

Bayer 04 Leverkusen: Butt - Zivkovic, Ramelow (85. Brdaric), Juan, Placente - Schneider, Balitsch, Bastürk, Bierofka (63. Simak) - Neuville, Berbatow (53. Franca) 1. FC Nürnberg: Kampa - Wolf, Petkovic, Nikl, Popovic - Todorovic (58. Junior), Larsen, Jarolim (88. Frey), Müller - Cacau, Ciric (84. Paßlak) Zuschauer: 22.500, Tore: 0:1 Ciric (58.), 0:2 Junior (88.)