SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON BJÖRN GOTTSTEIN
: Bedeutungsvoll

Siewert/Stangl/Sugimoto/Dafeldecker: Home (Grob)

In einer Zeit, in der das Rauschen unter einer Flut von Informationen beständig anschwillt, wird Musik, wie wir sie kennen, unwahrscheinlich. Der gepflegte, mit Ausdruck gepolsterte Ton verliert sich heute in einem Meer aus Störgeräuschen, Knistern und akustischem Flackern. Wo er auftritt, wirkt er künstlich und überzüchtet. Er wirkt unpassend, wie Prosecco in der Pilskneipe.

Eine ganze Legion jüngerer Elektrokomponisten hat sich diesem Szenario verschrieben – darunter Wiener Musiker wie der Kontrabassist Werner Dafeldecker und der Gitarrist Burkhard Stangl. Nicht, dass Dafeldecker und Stangl blasskalte Maschinenmusik produzierten: Ihre Geräuschklänge sind meist ausgesprochen warm, Phrasierungen und Spannungsverläufe regelrecht organisch. Aber sie haben eben bewusst ein eigenes, jenseits der Hörgewohnheiten gelegenes musikalisches Bezugssystem geschaffen.

Der unlängst erschiene Tonträger „Home“, den Stangl und Dafeldecker mit den Gitarristen Martin Siewert und Taku Sugimoto aufgenommen haben, scheint all das vergessen zu wollen. Wie selbstverständlich gewinnt der Ton hier wieder an Bedeutung. Da ruht man sich schon mal auf einer bauchigen Durterz aus; oder man deutet mit einem Tremolo-Effektgerät einen Beat an. Es ist nicht, als könnte man laut mitsingen. Aber „Home“ stellt die Selbstverständlichkeit, mit der man den tradierten Ton verdeckt hatte, immerhin in Frage. In ihren schwächsten Momenten verläuft diese Musik in selbstverliebtem Gitarrengedudel. In ihren besten Momenten (Track 3) träufelt sie in Bonbonfarben schimmernde Klangblasen auf einen rauen Untergrund, über den diese federnd streifen, bevor sie zerplatzen.

Eigenwillig

James Tenney: Forms 1-4. Ensemble Musikfabrik (HatArt)

Sicher kennt James Tenney Musik, die ihm gefällt. Edgar Varèse zum Beispiel hat einige Stücke von großem Sexappeal geschrieben – wie etwa das herausfordernde „Octandre“, mit seinen spröden Bläsern und dem knarzenden Kontrabass. Aber die Musikauffassung des US-Komponisten ist eben doch eine ganz andere, weshalb er an die Stilvorgaben erklärter Vorbilder nie wirklich heranreicht. Trotzdem hat Tenney den vier Teilen seines Zyklus „Forms“ Widmungen beigegeben, die – neben Edgar Varèse – John Cage, Stefan Wolpe und Morton Feldman gelten. Nur klingen diese Stücke nicht nach den angeführten Komponisten, sondern nach Tenney.

Tenney degradiert auch die Zeit – wie üblich – zur Statistin. Seine Musik orientiert sich stattdessen an der Vertikalen der Harmonien. Das Ensemble wälzt und strapaziert und überdehnt seine Akkorde, die auf ungewöhnlichen, naturtrüben Intervallen basieren und die deshalb nicht nur immer leicht unsauber klingen, sondern auch so unvergleichlich leuchten. Das Ensemble Musikfabrik spielt völlig stoisch und teilnahmslos – ganz im Dienste der Musik. Es besteht aber – allen Tenneyismen zum Trotz – ein fast unheimlicher Zusammenhang mit der Musik der Widmungsträger, die jeweils mit einem Werk auf der CD vertreten sind. Dieser Konnex ließe sich vielleicht mit dem Reziprok einer Fälschung vergleichen: Da nichts nachgeahmt wird, käme man auch nie darauf, die Stücke miteinander zu verwechseln. Die Varèse und Wolpe zugeeigneten Stücke klingen schroff, manchmal herb, artikuliert im Ansatz, pointiert in den Rhythmen. Das Cage-Stück dagegen lässt sich vor Zurückhaltung selbst kaum zu, während die Feldman-Hommage der glühenden Aura des Meisters Rechnung trägt.

Demütig

Oliver Latry: „Oliver Messiaen: Sämtliche Orgelwerke“ (DGG/Universal)

Wenn es ein Instrument gegeben hat, das Olivier Messiaen als Labor diente, dann war es die Orgel. Sechzig Jahre lang, von 1931 bis kurz vor seinem Tode 1992, ging er den sonntäglichen Pflichten eines Gemeindeorganisten an der Pariser „Eglise de la Trinité“ nach. Viele seiner Orgelwerke beruhen auf Improvisationen, bei denen er erstmals Vogelstimmen nachbildete, Rhythmen des indischen Mittelalters in seine Bassstimmen flocht oder mit den Tonleitern des europäischen Mittelalters spielte. Darüber hinaus gewinnt Messiaens Orgelmusik noch wegen der todernsten Religiosität des Komponisten und dem fast intimen Bekenntnischarakter der Kompositionen an Bedeutung.

Kein leichtes Unterfangen also, das gesamte, sechs CDs umfassende Orgelwerk Messiaens einzuspielen, doch Olivier Latry scheint dieser Aufgabe in jeder Hinsicht gewachsen. Der Organist wurde von Messiaen mehrfach lobend erwähnt. Er ist in der Orgeltradition Messiaens groß geworden. Und er spielt auf der Pariser Notre-Dame-Orgel – einem Instrument, auf dem Messiaen selbst häufig gespielt hat. Tatsächlich gelingen Latry wundervoll runde und elegante Aufnahmen, mit einer rätselhaften Mischung aus Inbrunst und Demut. Distanziert und wie von Ferne hält Latry den Klang in der Schwebe. Orgelmusik sei „die Musik des Unsichtbaren“ und „der wunderbare Ausblick auf das Jenseits“ hatte der Komponist einmal erklärt. Latry löst diese Sentenz ein.

Messiaen hat seine eigenen Werke kaum besser gemeistert. Aber er hat sie doch gewagter und zupackender gespielt – vielleicht auch, weil sie für ihn immer den Charakter einer Improvisation behalten haben. Latry hingegen muss dem Notentext zwangsläufig wie einer heiligen Schrift begegnen. Und sofern Messiaen ohnehin viel Raum zwischen einzelnen Tönen lässt und sofern der Monsterhall von Notre Dame diesen Raum ins Unermessliche weitet, fehlt es diesen Aufnahmen manchmal schlicht an Präsenz: Latry grummelt nur, wie ein von Ferne drohendes Gewitter.

Subtil

„Matthias Pintscher: Kammer – und Vokalmusik“. Tabea Zimmermann, Klangforum Wien u. a.: (Wergo/Schott)

Das Stück ist gar nicht einmal besonders spektakulär. Matthias Pintschers „Janusgesicht“ (2001) ist ein kaum zehnminütiges Duo für Viola und Violoncello. Die beiden Instrumente werfen sich ungehobelte Figuren in wechselnden Licht-und-Schatten-Ansichten zu. Ein Frage-und-Antwort-Spiel, ohne Fragen und ohne Antworten. „Janusgesicht“ ist also eher schlicht, ja beinahe simpel konzipiert. Und trotzdem steht die Zeit während der Schlussminute still, wenn die Klänge wie in einer Flucht versäuseln, der Bogen zwar immer wieder auf die Saiten trifft, der Ton sich aber unter schabenden Höhen nach und nach verliert.

Wo Komponisten bei der Klanggestaltung einen gewissen Grad an Finesse und Detailarbeit überschreiten, vollzieht die Musik einen qualitativen Sprung. Musikalische Energien und Ströme verlaufen dann nicht mehr an der Klangoberfläche, sondern tiefer und in den Klängen selbst.

Sofern Pintscher sich dem humorlosen Widerstand stellt, den Tinte und Papier ihm entgegenhalten, gelingt ihm dieser qualitative Schub fast mühelos. Das institutionalisierte Musikleben hat es ihm in den vergangenen Jahren mit einer Reihe lukrativer Aufträge gedankt. Matthias Pintscher ist 31 Jahre alt, und er wird bereits wie ein Altmeister hofiert. Nach zwei CD-Veröffentlichungen mit behäbigen Orchesterwerken musste er allerdings als an den Betrieb verkauft gelten. Denn da packte er abgehangene Sujets in betulich große Formen und pflegte zudem ein fahrlässig konservatives Kunstverständnis. Die jetzt erschienene CD mit Kammer- und Vokalmusik macht aber deutlich, dass Pintscher zwischen großen und kleinen Podien unterscheidet; dass er im Orchestersaal und in der Oper die Erwartung großer Gesten erfüllt, während er für den Kammersaal subtilere Schattierungen und sehr wohl avantgardistische Gesten zu komponieren versteht.

Frostig

Helmut Lachenmann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Staatsoper Stuttgart, Lothar Zagrosek (Kairos)

In der berühmten Frost-Arie aus Henry Purcells „King Arthur“ (1691) wird der Auftritt des Kältegeistes von einem bibbernden Chor begleitet: Die vor Kälte erstarrten Sänger pressen den Text mehr heraus, als dass sie ihn singen. Als Helmut Lachenmann „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1990/96) nach einem Märchen von Hans Christian Andersen komponierte, musste er es mit ähnlichen klimatischen Verhältnissen aufnehmen. Und auch Lachenmann lässt es in seiner Musik bibbern und zittern. Der musikalische Schüttelfrost zieht sich wie ein Leitmotiv durch das zweistündige Musiktheater, dessen Bilder „In dieser Kälte“ oder „Frier-Arie“ heißen, und an dessen Ende das Mädchen schließlich erfriert.

Eine Märchenoper ist „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nicht geworden. Denn Kälte meint natürlich auch soziale Kälte. Das Mädchen verwandelt sich, als es die zum Verkauf vorgesehenen Streichhölzer wärmebedürftig ansteckt, sogar in Gudrun Ensslin. Beide Figuren, erklärt der Komponist die Parallele, seien „beim Sich-selbst-Helfen Zugrundegehende“, Ensslin „eine extrem verformte Variante meines ‚Mädchens‘“.

Das ist also alles fürchterlich bedeutungsvoll und dann doch wieder auch ein ganz brauchbares Tableau, um eine einfache, herzzerreißende Geschichte mit sozialkritischen Inhalten aufzuladen. Wie aber verlegt man diese Inhalte in die Musik? Lachenmann verzichtet auf Kommentare und hält sich streng an die, freilich bloß angedeutete, Handlung. Er vertont und vergrößert das „Ritsch“ der zündenden Hölzer, setzt Schneeflocken und die kalte abweisende Hauswand, vor der das Mädchen hockt, in Töne.

Lachenmann malt nicht laut, er verwandelt Dinge in Musik. Und die Musik kommt dabei, hier passt die Floskel, zu sich selbst. Unter der Flut instrumentaler Geräusche, die hier in ungekannter Fülle ausgereizt werden, wächst das Unbehagen über die Szene beständig an. Das ist alles neu, aber es ist auch Teil eines jahrhundertealten Diskurses über die Aufgaben und die Möglichkeiten der Musik. Und Lachenmann scheut sich keineswegs, das überzeugende Klanggewand, dass Purcell der Kälte vor dreihundert Jahren verliehen hat, für seine Zwecke aufzugreifen.

Exzessiv

The Iceburn Double Trio: „Speed of Light/Voice of Thunder“; The Iceburn Collective: „Land of Wind and Ghosts“ (Mountain Collective/Vertrieb & Mailorder: www.mtncia.com)

Anfang der Neunzigerjahre waren Iceburn eine so hoffnungsvolle wie x-beliebige amerikanische Hardcore-Band. Und sofern Hardcore immer einen hohen Grad technischer Perfektion voraussetzt, ist es vielleicht gar nicht einmal verwunderlich, dass Iceburn sich im Zuge ihrer spieltechnischen Entwicklung vom Stilideal des Genres entfernten.

Iceburn griffen im Laufe der Jahre immer häufiger Elemente eines verfrickelten Jazzcores auf, bevor sie 1999 endgültig beim Ende aller Genres, dem Freejazz, landeten. Als The Iceburn Double Trio stellten sie zunächst Ornette Colemans berühmtes „Free Jazz“-Szenario von 1961 nach: zwei frei und unabhängig voneinander improvisierende Ensembles werden synchronisiert und streng auf die beiden Stereokanäle verteilt. Der Höreindruck war bei Coleman und ist bei Iceburn: verheerend.

Iceburn verzichten auf dieser CD mit dem sperrigen Titel „Speed of Light/Voice of Thunder“ nicht gänzlich auf Rockismen, sondern lassen die Vergangenheit der Band in kurzen Einschüben Melvins-schwerer Gitarren aufscheinen. Im vergangenen Jahr nun entstand „Land of Wind and Ghosts“. Der Gestus ähnelt jetzt demjenigen europäischer Freejazz-Ensembles der Siebzigerjahre – mit dem Willen zum Exzess und Momenten angespannter Zurückhaltung. Der markanteste Unterschied gegenüber Freejazz-Sitzungen vergangener Jahrzehnte liegt vor allem in der so humorvoll wie klug geweiteten Klangpalette. Neben der Kernbesetzung aus Gitarren, Saxofon, Bass und Schlagzeug kommen elektronische Rauscheffekte und Obscura wie Säge- und Spuckgeräusche zum Einsatz. Eine so seltsame wie bemerkenswerte Platte.