: Vage Freiheitssehnsucht
Beyer, Menzel, Chytilová: Das Babylon erinnert mit einer kleinen Reihe an die Prager Filmschule Famu, die nach dem Zweiten Weltkrieg viele Regietalente hervorbrachte
Auf der diesjährigen Sechzigerjahre-Retro der Berlinale war eines gut zu sehen: Die sozialistischen Versionen einer filmischen „Neuen Welle“ haben sich von ihren westlichen Entsprechungen nicht beträchtlich unterschieden. Die gleichen Motive, Atmosphären, Charaktere, ähnliche Geschichten und viel Skepsis, Überdruss und eine vage Sehnsucht nach Freiheit. An dieser Entwicklung hatten Filmschulen als künstlerische Versuchsfelder einen großen Anteil, vor allem die Prager Famu, die seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg Regietalente in Serie hervorbrachte.
An diesen Teil der Filmgeschichte erinnert ein kleines Programm im Filmkunsthaus Babylon. Bekannte Langfilme bekannter Famu-Absolventen werden neben einen Kurzfilm aus der Studienzeit gestellt. Jirí Menzels „Lerchen am Faden“ (1990), der in den Fünfzigerjahren in einem Umerziehungslager für „bourgeoise Elemente“ spielt, kommt dadurch mit „Uns ist Herr Förster gestorben“ (1962) zusammen. Ein alter Mann sitzt in der Sonne und imaginiert ein Frankreich der schönen Künste, während er eine junge Frau beobachtet, die singend ihre weiße Wäsche zum Trocknen aufhängt. Dieser metaphysische und bemerkenswert stilsichere Film geht von geschlechtsspezifischen Stereotypen aus, die in sozialistischen Filmen sonst nur noch eine geringe Rolle spielten. Hier werden sie durch ein geballtes Spiel mit universalistischen Kontrasten gedeckt: Jugend und Tod, Modell und Künstler, das Prestige der Kunst und die Anmut einfacher Arbeit. Bevor Vera Chytilová mit „Tausendschönchen“ (1966) ihr allseits geschätztes Pamphlet des Sozialistischen Surrealismus ablieferte, hatte sie mit Überrealismen anderer Art Erfahrungen gemacht. Noch in „Grüne Straße“ (1960) formte sie aus dem „Mann und Maschine“-Topos mit großer Geste eine stromlinienförmige Gesellschaftsmetapher.
Ein Güterzug verlässt den Bahnhof, ein Mann steht im Führerhaus, die Maschine drängt, die Landschaft fliegt, eine Störung stört, doch dann kann die Fahrt hurtig weitergehen. Noch einmal beschwört sie nachrevolutionäre Monumentalästhetiken der Zwanziger- und Dreißigerjahre: dynamische Collagen aus Untersichten in kontrastreichem Schwarzweiß. Ein Jahr später haben sich die Sensibilitäten völlig gewandelt. In „Die Decke“ sind die knackigen Fortschrittsbilder einem vieldeutigen Schimmern gewichen. Hier geht es nun urban und verzweifelt idiosynkratisch zu. Eine junge Frau hat das Medizinstudium für ein Model- und Party-Leben aufgegeben. Zwar ist sie frustriert, zieht jedenfalls ein langes Gesicht und spricht nur wenig, aber zwei Kommilitonen gelingt es, ihr ins soziales Gewissen zu reden.
Die Famu war ein wichtiger Anziehungspunkt auch für Studenten aus dem Ausland. Ende der Siebzigerjahre formierten sich dort Goran Markovic, Goran Paskaljevic und Emir Kusturica zur „Jugoslawischen Gruppe“. Neben „Time of the Gypsies“ (1989) läuft Kusturicas Abschlussfilm „Guernica“ (1978). Bereits in dieser Arbeit ist ein Thema präsent, das ihn bis heute beschäftigt: Die aggressive ethnische Segregation. In „Guernica“ wird sie anhand der Ausgrenzung und Verfolgung einer jüdischen Künstlerfamilie durch die Nazis durchgespielt, aber seine Inszenierung gibt dieser Geschichte ein entschieden zeitgenössisches Gesicht.
Ein Vierteljahrhundert war Frank Beyer nach Prag gegangen. Neben „Spur der Steine“ (1966) sollte denn auch „Wetterfrösche“ (1954) laufen. Leider ist Beyers Versuch, die Arbeit der Prager Meteorologen zu dokumentieren, dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Die dem Babylon zugängliche Kopie ist geschrumpft und kann nun also nicht gezeigt werden. Ein trauriges Phänomen, das auch in die Retrospektive des Defa-Regisseurs Günter Reisch eine Lücke gerissen hat.
MANFRED HERMES
Bis Fr., tgl. 19 Uhr, Filme von Frank Beyer (Di.), Jirí Menzel (Mi.), Emir Kusturica (Do.) und Vera Chytilová (Fr.), Babylon, Rosa-Luxemburg-Str., Mitte
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