bernhard pötter über Kinder
: Meuterei für das Bounty

Im Advent erreicht der Zuckerterror seinen Höhepunkt. Da hilft nur eine strikte Schokoladendiät

Es war diese Stille. Diese verdächtige Ruhe. Als ich mir morgens die Zähne bürstete und hektisch den kommenden Tag vor meinem inneren Auge ablaufen ließ (unten rechts im Bild eine kleine rote Acht: Schon jetzt acht Minuten zu spät), war Jonas in die Küche gegangen. Aber es kollerten keine leere Flaschen über den Dielenboden, noch pochten Bleistifte auf den Küchentisch. Als ich um die Ecke schaute, saß Jonas in der dunkelsten Ecke versteckt. Die Knie bis zu den Ohren hochgezogen. Der Mund schokoladenverschmiert und selig lächelnd. Wir schrieben den 5. Dezember. Am Weihnachtskalender fehlten die Päckchen bis zum 8. Dezember.

Meine autoritäre rechte Hirnhälfte schrie nach pädogischer Konsequenz. „Weihnachtskalender sind nur spannend, wenn man warten kann“, wollte ich sagen. Das Linke in mir hielt dagegen: Repression ist bei Süchtigen keine Lösung.

Schade eigentlich. Denn gerade in der Vorweihnachtszeit (die beginnt, wenn die Freibäder schließen) fühle ich immer wieder die Versuchung, meinen Kindern Augen, Ohren und Nasen zu verstopfen, um sie dem Beschuss mit Zucker nicht völlig hilflos auszuliefern. Es kribbelt in meinen Fingern, den voll gepackten Einkaufswagen an der Supermarktkasse in die Weihnachts-Quengelware krachen zu lassen. Oder ich sehne mich nach einer Rechtsschutzversicherung, um die skrupellosen Ernährungskonzerne zu verklagen, wie es jüngst Hans-Josef Brinkmann, der Vizepräsident des Landgerichts Neubrandenburg, getan hat. Der Mann wollte Schadenersatz, weil er sich seine Zuckerkrankheit mit Snickers und Mars selbst angefuttert hat. Er verlor den Prozess. Denn den Menschen schlechte Nahrung zu verkaufen ist nicht strafbar. Glück für Herrn Brinkmann: grobe Dummheit (wie völlige Ernährung auf Kakaobasis) aber auch nicht.

Ich jedenfalls wollte nicht vor den Zuckermultis kuschen. Also begann die Phase „Auflehnung“. Zum Frühstück gab es selbst gebackenes Brot mit Sanddornmarmelade. „Ich will Zimtos!“, schrie Jonas nach seinen Zuckerbomben. Tina stimmte mit ein. Zum Mittag stellte ich Kartoffel-Möhren-Suppe hin. Jonas wollte Smarties, Tina immerhin Banane. Zum Kaffee: Wir: Biolebkuchen. Jonas: Schokoweihnachtsmann. Tina: saure Gurken (?). Abendbrot: Unser Angebot: Käsebrot mit Tomate. Jonas: Pfefferkuchenhaus plündern. Tina: Grießbrei, aber nur mit Schokostreuseln. Jedes Essen zog sich in die Länge – es dauert seine Zeit, eine Meuterei niederzukämpfen.

Es folgte Phase II: Resignation. „Lass sie doch essen“, sagte Anna, meine Süße. „Es ist dunkel und kalt, und Schokolade setzt im Hirn den Glücklichmacher Serotonin frei.“ Ihre Hände zitterten, als sie die Milka halb gegessen wieder ins Stanniolpapier wickelte. Gab es um mich herum denn nur noch Junkies? „Hauptsache, abends werden die Zähne ordentlich geputzt“, schnaufte ich.

Dann kam Phase III: die Überdosis. „Wenn sie sich richtig voll stopfen, haben sie irgendwann keine Lust mehr“, sagte Anna. „Es widert sie dann einfach an.“ Sie selbst ist der lebende Beweis, dass diese These falsch ist. Aber gut: Wir begannen den Tag mit der Kindermilchschnitte. Wir forderten von der Kita Milchbrei mit Honig zum Mittagessen. Wir servierten abends Schokoladenfondue. Wir ließen überall Zimtsterne und Pfeffernüsse herumliegen. Wir griffen mit vollen Händen zu, wenn Weihnachtsmänner billigen Süßkram verteilten. Wir feierten im Kindergarten das islamische Zuckerfest mit vollen Backen, wir bestellten für die Besuche bei den Großeltern detaillierte Kuchenmenüs, wir knabberten uns durch die Weihnachtsmärkte der Stadt. Das Familienleben wurde harmonisch wie nie. Nur ich schlich ab und zu nachts ins Schlafzimmer der Kinder, um auf ihre Atemzüge zu lauschen. Lagen sie schon im Diabeteskoma?

Natürlich sind wir immer noch auf Droge. Zurzeit machen wir Phase IV durch: die Schokoladendiät. Wenn wir uns schon ausschließlich von Zucker ernähren, dann bitte kalorienbewusst. Inzwischen kennen wir den Brennwert von Schokolade (100 Gramm: etwa 600 Kilokalorien), Spekulatius (500), Lebkuchen (410) und Zimsternen (400). Im Schnitt braucht ein vierjähriger Junge etwa 1.500 Kilokalorien am Tag, plus zehn Prozent Winteraufschlag plus zehn Prozent Weihnachtszulage. Macht pro Tag 1.800 Kalorien oder drei Tafeln Schokoladenäquivalent, die Jonas jeden Tag angeboten bekommt. Um eine möglichst vollwertige Kost zu garantieren, wechseln wir ab zwischen Weihnachtsmännern, Adventsgebäck und zeitlosem Zuckerzeug (Twix). Mittelfristig wollen wir erreichen, dass wir die Diät in etwa drei Monaten wieder umstellen können.

Dann kommen die Ostereier.

Fragen zu Kinder?kolumne@taz.de