Saturday Night Fever

Radio hören? Etwas mitschneiden, so wie früher? Nein. Es ist Sonnabendabend. Es gilt rauszugehen, flüchtige Bekanntschaften zu machen in Bars für Durchreisende. Aber wo sind diese Bars? Jedenfalls nicht in Prenzlauer Berg, oder? Eine Geschichte

Kann mir ja keiner verbieten, einen Spaziergang durchs Viertel zu machen

von JOCHEN SCHMIDT

Es ist Sonnabendabend, kein Grund den Kopf hängen zu lassen, aber das geht ohne Grund leider am besten. Eine der letzten inneren Stimmen, die es in mir noch ausgehalten hat, tröstet mich: Mensch, solange man gesund ist, ist doch alles andere zweitrangig. Die hat gut reden. Warum bin ich nur von zu Hause ausgezogen? Meine Mutter hätte uns jetzt Tomatenstüllchen gebracht, und wir hätten alle zusammen „Wetten, dass ..?“ geguckt und mitgefiebert. Vielleicht hätte ich sogar ein Bier trinken dürfen. Ich weiß nicht, wieso ich, seit ich 30 bin, immer denke, ich müsste am Sonnabend in die Disko.

Ich könnte ja auch einfach mal wieder Radio hören, wie früher. Ich könnte ja was mitschneiden. Hab schon die ganze Popmusik aus den Neunzigern verpasst, die muss ich mir jetzt mühsam überspielen. Oder ich gieße meine Pflanzen. Aber ob die davon wieder lebendig werden? Radio hören, Pflanzen gießen, eigentlich erträumt man sich was anderes von einem Sonnabendabend. Ein romantisches Candlelight-Dinner zum Beispiel. Aber mit wem sollte ich das machen? Mir fällt niemand ein, der so romantisch ist wie ich. Ich kann mich ja auf einen Stuhl setzen und mir Fragen stellen, dann setze ich mich gegenüber und antworte mir. Das wird bestimmt ein interessantes Gespräch. Manche spielen schließlich auch mit sich selbst Schach und werden dafür bewundert. Am meisten die, die Blindenschach mit sich spielen. Da kann ich mir auch einfach vorstellen, mich mit mir zu unterhalten. Nur dass ich eigentlich gar nicht mein Niveau habe, ich bin doch so langweilig.

Und dann muss ich mir ja auch schon vorstellen, was zu essen, weil ich vergessen habe einzukaufen. Obwohl ich seit Tagen immer vor mich hinmurmele: „Einkaufen, einkaufen, einkaufen.“ Das mache ich mit allen Sachen, die ich nicht vergessen will, und wenn sie mich beim Bäcker fragen, was ich möchte, antworte ich manchmal: „Müll, Müll, Müll.“

Wenn ich jetzt ins Kino gehe, kann ich auch gleich fernsehen. Und wenn ich jetzt den Fernseher anmache, mache ich ihn, bis ich 80 bin, nicht mehr aus. Und lesen kann ich auch noch, wenn ich nicht mehr laufen kann und meine Enkel mich nicht besuchen kommen. Ich hab’s, ich gehe einfach raus und trinke in einer netten Kneipe ein, zwei Gläser Wein, lese ein gutes Buch und esse eine Portion Tortellini mit Sahnesauce. Vielleicht auch kein gutes Buch, sondern ein spannendes, heute ist schließlich Sonnabend.

Mich packt gleich das Reisefieber, als ich meine Sachen zusammensuche. Was brauche ich denn alles? Regenschirm, Geld, Taschentuch, Schlüssel, Notizbuch, Jacke, Mütze, Adressenbuch, Stift, Schuhe, Kaugummis, Telefonkarte, was zu lesen. Ich tue zum Spaß so, als hätte ich es total eilig. Es ist schön, so loshetzen zu müssen. Hoffentlich habe ich nichts vergessen! Endlich mal wieder raus, flüchtige Bekanntschaften machen in einer Bar für Durchreisende. Man kann sich ja vorstellen, man macht hier nur Urlaub, alles ist total neu und beunruhigend. Mal gucken, was sie hier für Restaurants haben.

Das „Frida Kahlo“ fällt natürlich schon wegen dem Namen weg. Gegenüber ist so ein neues Cocktailrestaurant. Aber da würden sie mich mit meinem finsteren Blick nicht reinlassen. Das war schon am Tag, als es aufgemacht hat, voll. Diese ganzen Designer, Gestalter und Ausstatter haben schon Wochen vorher an der Ecke gestanden und sich in die Hände geblasen, weil sie kein Restaurant für sich hatten. Ein paar Meter weiter standen die Schluckis und haben das Gleiche gemacht. Aber denen baut niemand ein Restaurant, obwohl sie viel mehr konsumieren würden.

Gegenüber im „Houdini“ ist alles voll mit schwatzenden Menschen. Soll ich mich irgendwo mit ransetzen, wo noch ein Stuhl frei ist? Hallo, ist hier noch frei? Ich will nur ein spannendes Buch lesen und störe gar nicht. Ich bin eigentlich Misanthrop, aber irgendwie auch nicht konsequent. Aber das traue ich mich erst mal nicht, muss ja auch nicht sein, es gibt ja genug Kneipen im Prenzlauer Berg. Also weiter, das „Keglerheim“ hat wieder aufgemacht, das sieht doch gut aus. Aber hier scheinen sich auch alle zu kennen. Vor der Tür diskutieren sie über alte DDR-Motorrad-Zündkerzen. Die sehen einen immer mit diesem Blick an, als wüssten sie schon, dass sie einen beim Kickern mit einer Hand besiegen. Da kann ich auch gleich in Speiches Rock-Café gehen und mich unter einen selbst gemalten Jim Morrison setzen. Ich will jetzt keine Selbstbehauptungsversuche, nur ganz entspannt ein schlechtes Buch lesen.

Ein Stück weiter kommt eine Kneipe, in der sie in Hollywoodschaukeln liegen und kiffen. Da kann ich nicht lesen, nachher werde ich noch drogenabhängig. Und am „Haleema Kaluuma“ hängt ein Zettel „Geburtstagsparty.“ Drinnen bilden ein paar blondierte Frauen einen Kreis und bewegen sich zu türkischer Musik. Das heißt, sie heben die Arme über den Kopf und klatschen in die Hände. Da fällt mir wieder schmerzlich ein, dass ich demnächst auch Geburtstag habe. Soll ich da eine Party mit Square-Dance geben? Aber ich traue mich ja nicht mal, mich selbst zum Tanzen aufzufordern, weil ich immer so wählerisch bin.

Weiter, es gibt noch andere Kneipen hier, ich bin ja ganz anspruchslos, nur ein stilles Plätzchen mit Candlelight. Gegenüber kommt die „Bodegita del Medio“. Da sitzen alle Rechtsanwälte, die sich schon mal auf Safari nach Kuba getraut haben. Die stehen total auf Südamerika und revolutionären Charme. Ich könnte ja reingehen und sagen: „Viva la revolución! Abajo los capitalistas! Yo soy un hombre sincero!“ Aber nein, keine Konfrontation, sollen sie nur machen, kann ja nicht jeder Schriftsteller werden. Also weiter, mal zur Kulturbrauerei gucken, vielleicht draußen eine Bratwurst kaufen, mein Buch kann ich ja dann auf dem Heimweg lesen.

Auf dem Hof der Kulturbrauerei schlängele ich mich an kotzenden Gymnasiasten vorbei. Sie schreien sich an: „Votze!“ „Sack!“, bevor sie sich küssen. Die Mädchen sehen wirklich hübsch aus. Aber bis sie merken werden, dass Candlelight-Dinner mit mir viel romantischer sind, sind sie auch alt und hässlich. Ich lege meine undurchdringliche „The more you know“ Miene auf, aber ich kann froh sein, wenn sie mich überhaupt durchlassen. Ich muss ihnen sogar in den Rücken pieken, damit sie eine Gasse bilden. Schnell weiter, ich kann ja so tun, als ob ich nur zum Kino will, da kann man auch allein hingehen, man demonstriert damit sogar seinen exklusiven Filmgeschmack. Hat sich einfach keiner gefunden, der mit mir den neuen Dokumentarfilm über die Schoah sehen wollte. Nur weil er acht Stunden dauert.

Okay, jetzt guckt keiner mehr, ich gehe einfach durchs Kinofoyer durch und hinten wieder raus, ganz souverän. So, und jetzt? Denselben Weg wieder zurück? Kann mir ja keiner verbieten, einfach einen Spaziergang durchs Viertel zu machen am Sonnabendabend. Ich hab sowieso keine Zeit und wollte nur schnell einen Schawarma essen. Von weitem sieht es aus, als würde der Kampir-Impiss Vampir-Imbiss heißen. Ich finde das schön, dass ich der Einzige im Laden bin. Ich lese auch gerne den Spandauer Lokalteil des Tagesspiegel, wenn nichts anderes da ist. Den Stern vom August hab ich auch verpasst damals.

Ich bin nicht einsam, ich führe die interessantesten Gespräche mit mir selbst. Da kommt ihr auch noch mal dahinter. Außerdem gibt es ja das Internet, da muss sich niemand langweilen am Sonnabendabend. Ich kann ja mal gucken, was heute im Fernsehen kam. Aha, hab ich gar nichts verpasst, war doch gut, mal wegzugehen. Mach ich jetzt vielleicht öfter, wenn ich mal wieder Zeit habe. Morgen zum Beispiel. Ich muss direkt aufpassen, dass ich nicht versumpfe bei der Kneipendichte im Bezirk.