Liebe dein Symptom!

Fingerübungen in Sachen Gewalt und Gangstertum: Mit „Graveyard of Honor“ kehrt Takashi Miike nicht nur zum Yakuza-Genre zurück, er kommentiert auch mit deutlich sozialkritischer Spitze den Zusammenbruch der Bubble-Ökonomie in den 90ern

von TOBIAS NAGL

Takashi Miike (Audition, Ichi the Killer, Dead or Alive) ist ein unbestrittener Meister des ästhetischen Unbehagens: Kaum einem jungem Regisseur der letzten Dekade ist es derart beständig gelungen, Zuschauer gegen das auf der Leinwand Gezeigte innerlich aufzubringen, die Identifikation für einen Moment zu verweigern – und sie über den berstenden Aberwitz und die grafische Deutlichkeit seiner Filme entsetzt und begeistert zugleich nur mehr staunen zu lassen.

Doch der Wahnsinn in seinen Filmen hat nicht nur Methode, sondern auch eine Ökonomie. Miike dreht seit 1991 im Schnitt sechs Filme pro Jahr, seit einigen Jahren ausschließlich digital und oftmals direct-to-video. Wer so viel produziert, hat wenig Zeit zur Planung: Seine Filme sind in jeder Hinsicht schnelle Genre-Fingerübungen in den Fächern Gewalt und Gangstertum. Und es ist gerade diese bewusst hingeworfene Qualität, die sie nicht nur ästhetisch auszeichnet, sondern auch immer wieder explodieren lässt und dem Unerwarten ein Hintertürchen öffnet.

Miikes fragmentarisches „Oeuvre“ verkörpert so das Überleben eines an große Studiosysteme und ihre Routine gebundenen Autorenbegriffs: den Regisseur als „Ikonoklast und Schmuggler“, wie es Martin Scorsese für Nicolas Ray und das Hollywood der 50er Jahre einmal formulierte. Mit einem Unterschied: In Miikes Filmen ist für Subversion kein Platz mehr, weil die Zuschauer selbst längst den narrativen Maschinenpark der Genre-Ökonomie durchschauen und nicht mehr für ein ungetrübtes Fenster zu Welt halten. Eher schon umarmt der Regisseur freudig seine Perversionen und „Symptome“ – als Einladung zur Retinalmassage, zur ultimativen Achterbahnfahrt für eine Generation, die schon alles gesehen zu haben glaubt und nun permanent nach höheren Dosen verlangt.

Audition, sein im Westen bekanntester Film, drehte so eine an Hitchcock angelehnte Femme-Fatale-Geschichte nach einer Stunde zum beklemmend-masochistischen Psycho-Splatter um; Visitor Q offerierte unter dem Deckmantel einer Familienkomödie mit umgekehrtem Düsenantrieb ständig spritzende Milchdrüsen, grafischen Sex und eine Tochter, die mit ihrem derangierten Vater fürs Taschengeld ins Bett ging.

Mit Graveyard of Honor kehrt Miike nun zum Yakuza-Genre zurück, das er wie kaum einer in den 90er Jahren revitalisierte. Graveyard of Honor basiert dabei auf einem Klassiker des Genres: dem gleichnamigen Film des Action-Experten Kinji Fukasaku aus den 70ern. Doch anders als Fukasaku inszeniert Miike seine Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Kleingangsters nicht in den Nachkriegsjahren, sondern mit deutlich sozialkritischer Spitze nach dem Zusammenbruch der Bubble-Ökonomie in den 90ern.

In eine unheilvolle Rückblende eingebunden, erzählt Graveyard of Honor vom Tellerwäscher Ishimatsu (Goro Kishitani), der durch einen Zufall zum Vertrauten des Paten Sawada (Shingo Yamashiro) wird und so seine kriminelle Karriere beginnt. Durch seine Disziplinlosigkeit landet er schnell im Knast und lernt dort den gegnerischen Yakuza-Boss Imamura (Ryôsuke Miki) kennen. Bei ihm sucht er nach seiner Haftentlassung Schutz, als er aus Versehen Sawada angeschossen hat. Doch Ishimatsu zieht weiteren Ärger magisch an – und in der zweiten Hälfte von Graveyard of Honor konzentriert sich Miike vollständig und ziemlich brillant auf die quälend fortschreitende Desintegration seines Anti-Helden.

Ishimatsu wird heroinabhängig, macht Spielschulden und schließt sich apathisch mit seiner Freundin in einer Wohnung ein. Als die Polizei mit großem Aufgebot ihn dort verhaften will, ballert Ishimatsu nur mit einer Unterhose bekleidet von der Balkonbrüstung aus ziellos in die Menge, um sich mit leerem Magazin sofort zu ergeben. Das wirkt wie eine gänzlich unglamouröse Version von Al Pacinos berühmter Ansprache an die Polizei in Dog Day Afternoon. Wo Pacinos sozialrevolutionärer Bankräuber noch mit dem Applaus der Schaulustigen rechnen konnte, ist Miikes Gangster nur ein trauriger Verlierer im Konkurrenzkampf.

täglich bis 1.1., außer 20., 24. + 31.12., 22.30 Uhr; Miike-Filmnacht mit Audition und Dead or Alive: Fr, 20.12., 22.30 Uhr, 3001