das theater frisst seine kinder von HARTMUT EL KURDI:
Von einem schulisch erzwungenen Weihnachtsmärchenbesuch abgesehen hatte ich zeit meiner Kindheit keinerlei Kontakt mit dem Theater. Wozu auch? Im Wohnzimmer stand ein funktionierender Loewe Opta, unter meinem Bett eine Kiste mit geerbten Micky-Maus-Heften, und aus der Klassenbibliothek hatte ich mir „Karlson vom Dach“ und „Die Reiherinsel“ dauerausgeliehen – damit war mein Bedarf an kultureller Freizeitbeschäftigung gedeckt.
Ich musste mich ja auch noch um Claudia Grunewald und meinen bissigen Albino-Goldhamster „Panther-Hopsi“ kümmern. Außerdem gab es um 1970 herum in Westdeutschland gar kein Kindertheater. Die „Grips“-Welle aus dem fernen Berlin war noch lange nicht in der Provinz angekommen. Blieb nur das lieblose Stadttheater-Weihnachtsmärchen, in dem alle Schauspieler mitspielten, die zu schlecht oder zu alkoholabhängig für den normalen Spielplan waren oder die aus Versehen auf der letzten Weihnachtsfeier die Frau des Intendanten gepudert hatten und nun wie in einer dantesken Vorhölle in 35 Doppelvorstellungen (jeweils 11 und 15 Uhr) ihre Schuld abarbeiten mussten. Das wollte mir einfach nicht gefallen.
Komischerweise bin ich trotz dieser bühnenkunstfreien Kindheit selbst beim Theater gelandet. Mitunter mache ich sogar Kindertheater und schaue mir deswegen aus Abkuckgründen auch die Stücke von Kollegen an, und das sogar mit Spaß, weil Kinderstücke in der Regel unprätentiöser und weniger depressiv sind als das wichtigtuerisch herumernstelnde Volljährigentheater. Manchmal hat man allerdings auch Pech. Großes Pech.
So wurde ich neulich Zeuge eines „Die Menschenfresserin“ betitelten Bühnengeschehens „für Kinder ab 6“. Die gnadenlose Schwurbelkunst-Grusel-Melange handelte von einer Frau, die unbedingt ein Kind essen will, schließlich eines findet, es wegspachtelt und dann feststellt, dass es ihr eigenes war. Mythen in Tüten also. Die Fantasie in die gleiche Richtung stimulierend wie das „Texas Chain Saw Massacre“, nur weniger unterhaltsam. Als die bleiche Menschenfresserin die Bühne betrat, textlos, dafür aber völlig unironisch stöhnend, ächzend, rülpsend und blutgefärbte Mullbinden hinter sich herziehend, krallte sich neben mir ein kleiner Junge in seine Mutter und wimmerte „Mammi, wieso macht’n die Frau so komisch?“
Fast schlimmer als die Kannibalin war allerdings der Musiker, ein barfüßiger Catweazle-Lookalike, der auf diversen Meditationsinstrumenten enervierende esoterische Geräusche erzeugte, während sich das Scheinwerferlicht funkelnd auf den Schnittkanten seine hornigen Fußnägel brach. Zwischendurch versuchte ein Erzähler, die Geschichte der Bilderbuchvorlage möglichst langatmig und wirr wiederzugeben und so den Horror mit Langeweile zu kompensieren.
Als die anderen Zuschauer und ich nach gefühlten zwölf Stunden Aufführungsdauer wieder freigelassen wurden, taumelte ich zurück ins Leben und dachte: Bei Gott, man hat dem klassischen Weihnachtsmärchen viel Unrecht getan!
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